Der Azteke
Stelzwurzeln einem Schilfdickicht, das in fußhohem Wasser stand. Dort endete der Pfad, und ich stand am Ufer eines Sees, welcher von der untergehenden Sonne blutrot übergossen war. Es handelte sich um eine ausgedehnte Brackwasserfläche, die – dem Schilf und den weißen Reihern nach zu urteilen, die überall standen – nicht sonderlich tief sein konnte. Unmittelbar vor mir lag eine Insel, vielleicht zwei Pfeilschüsse weit entfernt, und ich hob meinen Sehkristall ans Auge, um mir genau jenen Ort anzusehen, dem die weißen Reiher ihren Namen gegeben hatten.
Aztlan war eine Insel in einem See, so wie Mexíco-Tenochtítlan eine Insel war, doch damit, so schien es, endete jede Ähnlichkeit. Es handelte sich um einen flachen Landbuckel, den keine Stadt höher erscheinen ließ, als er in Wirklichkeit war, denn nirgends war ein Gebäude zu sehen, welches höher als einstöckig gewesen wäre. Keine einzige Pyramide stieß in den Himmel empor, nicht einmal ein Tempel, hoch genug, daß man ihn von dort aus hätte sehen können, wo ich stand. Über das Abendrot, welches sich über die Insel legte, trieb der blaue Rauch von abendlichen Herdfeuern. Vom See ringsum strebten zahllose Einbäume der Insel zu, und ich rief einen an, der dicht an mir vorüberkam.
Der Mann, welcher darin stand, trieb ihn stakend mit einem Pfahl voran. Der See war so flach, daß man nicht auf Ruder angewiesen war. Er ließ das Kanu durch das Schilf auf mich zugleiten, blickte mich dann argwöhnisch an, stieß einen Fluch aus und sagte: »Du bist gar nicht … du bist ein Fremder.«
Und du bist noch so ein schlechterzogener Aztécatl, dachte ich, hütete mich freilich, das laut zu sagen. Ich stieg in sein Boot, ehe er davonstaken konnte, und sagte: »Falls du den Frosch-Jäger suchst, so behauptet der, er hätte zuviel zu tun, und ich glaube, das stimmt. Bring mich bitte zur Insel hinüber.«
Er stieß nur nochmals einen Fluch aus, erhob sonst jedoch keinen Einspruch, bekundete aber auch keinerlei Neugierde und sagte kein weiteres Wort, als er mich durch das Wasser stakte. Am Ende der Insel ließ er mich an Land steigen und fuhr dann weiter – durch einen von mehreren Kanälen, welche netzförmig auf der Insel ausgehoben worden waren; die einzige andere Ähnlichkeit mit Tenochtítlan. Eine Zeitlang schlenderte ich durch die Straßen. Außer einer breiten Straße, welche rings um die Insel herumführte, gab es nur noch vier andere – zwei, welche von einem Ende der Insel zum anderen führten, und zwei quer dazu von einem Ufer zum anderen. Alle waren sie primitiv mit zerstampften Austern- und Muschelschalen befestigt. Die Häuser und Hütten, welche dicht an dicht an der Straße und die Kanäle entlang standen, waren, wiewohl ich vermutete, daß sie von einem Holzgerüst getragen wurden, mit einer gleichfalls aus zermahlenen Muschelschalen bereiteten weißen Tünche gestrichen.
Die Insel hatte die Form eines Ovals und war recht lang, etwa so groß wie Tenochtítlan ohne den nördlichen Stadtteil Tlaltelólco. Vermutlich gab es hier auch genauso viele Häuser, doch da sie alle einstöckig waren, bargen sie keineswegs eine zahlenmäßig so große Bevölkerung wie Tenochtítlan. Von der Mitte der Insel aus konnte ich den See ringsum überall erkennen; des weiteren konnte ich sehen, daß dieser See wiederum überall von demselben trüben Sumpf umgeben war, durch den ich hergekommen war. Immerhin waren die Azteca nicht so weit heruntergekommen, daß sie in diesem Sumpf selbst lebten, doch hätten sie das im Grunde genausogut tun können. Das Wasser des Sees, welches sich zwischen Sumpf und Insel erstreckte, hinderte die Nachtnebel und üblen Ausdünstungen und Moskitos nicht, bis zur Insel vorzudringen. Aztlan war ein höchst ungesunder Lebensraum, und ich war froh, daß meine Ahnen so vernünftig gewesen waren, diesen Ort zu verlassen.
Die augenblicklichen Bewohner hielt ich für die Abkömmlinge jener, die zu träge und zu schwunglos gewesen waren, sie zu verlassen und sich auf die Suche nach einem besseren Ort zu begeben Soweit ich erkennen konnte, hatten die Zurückgebliebenen auch in all den Generationen seither nicht genug Unternehmungsgeist aufgebracht, um von sich aus etwas an diesem Zustand zu ändern. Sie schienen geschlagen und niedergedrückt von ihrer jämmerlichen Umgebung und hatten sich, wenn auch widerwillig, verbissen mit ihr abgefunden. Den Leuten, die ich auf der Straße traf, merkte ich an, daß sie mich als Fremden erkannten,
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