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Der Azteke

Der Azteke

Titel: Der Azteke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gary Jennings
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stolz darauf, völlig unabhängig zu sein und uns selbst zu
    versorgen, deshalb gehen wir auch selten auf Reisen und unterhalten kaum Verkehr mit irgendwelchen anderen Stämmen. Wir kennen nur unsere nächsten Nachbarn, verspüren aber keinerlei Lust, uns mit denen zu vermischen. Nördlich von diesen Sümpfen leben zum Beispiel die Kaita. Da du aus dieser Richtung kommst, mußt du gemerkt haben, was für ein erbärmliches Volk das ist. Und in den Sümpfen südlich von hier gibt es nur ein einziges, völlig unbedeutendes Dorf namens Yakóreke. Das zu hören freute mich. Wenn Yakóreke die nächstgelegene Gemeinde weiter im Süden war, war ich längst nicht so weit von daheim fort, wie ich angenommen hatte. Yakóreke war als Dorf ein Außenposten der Nauyar Ixu, welche den Purempecha tributpflichtig sind. Von Nauyar Ixu war es keine unmöglich lange Reise bis nach Michihuácan, und jenseits davon begannen schon die Länder des Dreibunds.
    Der junge Mann fuhr fort: »Östlich von diesen Sümpfen liegen die hohen Berge, wo Völker leben, die Cora und Huichol genannt werden. Und hinter dem Gebirge erstreckt sich die Wüste, wo seit langem etliche von unseren armen Verwandten im Exil leben. Nur ganz, ganz selten findet einmal einer von ihnen zurück in das Land seiner Vorväter.«
    Ich sagte: »Ich weiß von euren armen Verwandten in der Wüste. Aber ich wiederhole, ich gehöre nicht zu ihnen. Und ich weiß auch, daß nicht alle von euren entfernten Verwandten arm sind. Einige von denen, welche vor so langer Zeit von hier auszogen, um ihr Glück in der Welt draußen zu finden, haben in der Tat das Glück gefunden – und zwar einen Reichtum und ein Glück, wie ihr es euch nicht einmal vorstellen könnt.«
    »Es erfreut mein Herz, das zu hören«, sagte er gleichgültig. »Und der Großvater meiner Frau wird sich noch mehr freuen. Er ist der Geschichtserinnerer von Aztlan.«
    Diese Bemerkung machte mir klar, daß die Azteca ja von der Bilderschrift keine Ahnung haben konnten, hatten wir Mexíca sie doch erst nach unserer Auswanderung ersonnen. Infolgedessen konnten sie auch keine Geschichtsbücher oder irgendwelche anderen Aufzeichnungen haben. Wenn sie sich auf einen alten Mann als Bewahrer ihrer Geschichte verließen, war er bestimmt nur der letzte in einer langen Reihe alter Männer, welche dieses Wissen von einem zum anderen weitergegeben hatten.
    Der andere Mixtli fuhr fort: »Die Götter wissen, daß dieser Spalt im Gesäß der Welt nicht gerade ein angenehmer Platz zum Leben ist. Das Hochwasser schwemmt Meerestiere herein, wir brauchen also noch nicht einmal groß nach Nahrung zu suchen. Die Kokosnuß gibt uns Süßigkeiten, Öl für unsere Lampen, und die Milch darin läßt sich zu einem angenehm berauschenden Getränk vergären. Eine andere Palmenart liefert uns Fasern, Tuch daraus zu weben, noch eine andere schenkt uns Mehl, und noch eine weitere trägt die Coyacapúli-Frucht. Wir brauchen also wegen des Allernötigsten keinen Handel mit anderen Stämmen zu treiben, und die Sümpfe schützen uns davor, von ihnen belästigt zu werden …«
    Er fuhr fort, wenig begeistert sämtliche schaurigen natürlichen Vorteile aufzuzählen, die Aztlan vorzuweisen hatte, doch ich hatte aufgehört zuzuhören. Ich fühlte mich ein wenig benommen, als mir aufging, wie sehr entfernt ich mit meinem »Vetter« desselben Namens verwandt war. Zwar ist es möglich, daß wir beiden Mixtlis uns hingesetzt und unsere Vorfahren bis zu einem gemeinsamen Ahnen zurückverfolgt hätten, doch unsere unterschiedliche Entwicklung hatte uns weiter voneinander entfernt als die immerhin beträchtliche Entfernung zwischen Tenochtítlan und Aztlan. Was uns trennte, war ein unermeßlicher Unterschied in der Erziehung und in den Aussichten. Dieser Vetter Mixtli hätte genausogut im Aztlan jener Vorzeit leben können, das seine Ahnen sich geweigert hatten zu verlassen. Aztlan war immer noch, was es schon damals gewesen war: Wohnsitz von trägen Menschen, welche kein Abenteurerblut in den Adern hatten. Genausowenig, wie sie eine Ahnung von der Bilderschrift hatten, hatten sie auch keine Ahnung davon, was diese sie lehren konnte: Arithmetik, Erdkunde, Baukunst, Handel und Eroberung. Sie wußten sogar noch weniger als ihre barbarischen Vettern, die sie verachteten, die Chichiméca der Wüste, welche zumindest den Mut aufgebracht hatten, über den beschränkten Horizont von Aztlan hinauszuschauen.
    Da meine Vorfahren diesen Abgrund des Nirgendwo verlassen und

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