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Der Azteke

Der Azteke

Titel: Der Azteke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gary Jennings
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plattenbelegten Weg hinaus, dem ich folgte, wie er sich unter herrlichen Bäumen sanft durch Blumenbeete wand, vorüber an sich schlängelnden Bächen und leise plätschernden kleinen Wasserfällen, bis der Weg wieder in eine Treppe überging. Abermals dreizehn Stufen und ein Absatz mit Bank und Statue …
    Der Himmel hatte sich seit einiger Zeit bezogen, und jetzt rauschte der Regen hernieder, wie er es stets während unserer Regenzeit tut – ein Wolkenbruch, als ob das Ende der Welt gekommen sei. Als der Regen jetzt einsetzte, hatte ich bereits auf einem der Treppenabsätze Zuflucht gesucht, dessen Bank von einem reetgedeckten Dach geschützt war. Während ich wartete, bis das Unwetter vorüberging, sann ich über die Bedeutung nach, die sich in den Zahlen der im Zickzack hinaufführenden Treppe verbarg und lächelte über den genialen Einfall dessen, der einst den Plan für diese Treppe gefaßt hatte.
    Genauso wie ihr weißen Männer auch, richteten wir uns in unserem Leben nach einem Jahreskalender, welcher auf der Bahn beruht, den die Sonne am Himmel zurücklegt. So bestand unser Sonnenjahr – genauso wie das eure – aus dreihundertundfünfundsechzig Tagen; dieses Kalenders bedienten wir uns für alle gewöhnlichen Zwecke: um zu bestimmen, wann welche Saat ausgebracht werden mußte, wann wir mit dem Einsetzen der Regenzeit rechnen konnten und so fort. Dieses Sonnenjahr teilten wir in achtzehn Monde von je zwanzig Tagen ein, zu denen noch die Nemontémtin kamen – die »leblosen« oder »hohlen« Tage –, jene fünf Tage also, die nötig waren, um auf ein Jahr von dreihundertundfünfundsechzig Tagen zu kommen.
    Gleichwohl hielten wir uns aber auch noch an einen anderen Kalender, welcher nicht auf dem täglichen Gang der Sonne beruhte, sondern auf dem nächtlichen Erscheinen jenes funkelnden Sterns, den wir nach unserem uralten Gott Quetzalcóatl, der Gefiederten Schlange, benannten. Bisweilen diente Quetzalcóatl als Nacht Blume, welche unmittelbar nach Sonnenuntergang aufblinkte; manchmal wanderte er jedoch auch auf die andere Seite des Himmels hinüber, wo er dann als letzter Stern sichtbar wurde, ehe die Sonne aufging und alles andere überstrahlte. Jeder von unseren Astronomen könnte euch all dies anhand von genauen graphischen Darstellungen erklären, doch habe ich mich in der Sternkunde nie besonders gut ausgekannt. Allerdings weiß ich, daß die Bewegungen der Sterne sich durchaus nicht so regellos und zufällig vollziehen, wie es den Anschein hat, und daß unser Zeremonialkalender sich nach den Bewegungen jenes Sterns richtete, den wir nach Quetzalcóatl benannten. Dieser Kalender war auch für das gewöhnliche Volk nützlich, wenn es darum ging, die neugeborenen Kinder zu benennen. Unsere Historiker und Schreiber benutzten ihn, um besondere Ereignisse zeitlich genau zu bestimmen und festzuhalten, wie lange unsere Herrscher jeweils regierten. Weit wichtiger jedoch war, daß unsere Seher sich seiner bedienten, um die Zukunft vorauszusagen, um uns vor bevorstehenden Verhängnissen zu warnen und günstige Tage auszuwählen, an denen bedeutsame Unternehmen begonnen wurden.
    Im Seherkalender umfaßte jedes Jahr zweihundertundsechzig Tage, die dergestalt benannt wurden, daß man an die Zahlen eins bis dreizehn je eines von zwanzig altüberkommenen Zeichen wie Kaninchen, Rohr, Messer und so weiter anhängte; die Sonnenjahre wiederum wurden nach der Zeremonialzahl und dem Zeichen des ersten Jahrestages unterschieden. Wie ihr euch denken könnt überschnitten Sonnen- und Ritualkalender einander ständig; einmal hinkte der eine hinterher, oder aber er eilte dem anderen voraus. Aber wenn man sich bemüht, es genau nachzurechnen, wird man feststellen, daß sie über insgesamt zweiundfünfzig gewöhnliche Sonnenjahre eine ganz genau gleiche Anzahl von Tagen abdeckten. Das Jahr, in dem ich geboren wurde, hieß zum Beispiel Dreizehn Kaninchen, und kein einziges späteres Jahr trug diese selbe Bezeichnung wieder, bis mein zweiundfünfzigster Geburtstag kam.
    Daher war die Zahl zweiundfünfzig sehr bedeutsam für uns – ein Schock Jahre nannten wir einen solchen Zeitraum –, denn ebenso viele Jahre wurden von beiden Kalendern gleichzeitig abgedeckt; außerdem waren zweiundfünfzig mehr oder weniger das höchste an Jahren, was ein durchschnittlicher Mensch – wenn man von Unfall, Krankheit oder Krieg einmal absieht – hoffen konnte zu leben. Die Steintreppe, die sich den Texcotzinco-Hügel hinaufzog, spiegelte

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