Der Azteke
mit den Treppenabsätzen zwischen je dreizehn Stufen die dreizehn Ritualzahlen und mit den zweiundfünfzig Stufen zwischen jeweils zwei Terrassen ein Schock Jahre. Als ich endlich auf die Kuppe des Berges hinaufgelangte, hatte ich insgesamt fünfhundertundzwanzig Stufen gezählt. Alles in allem waren damit zwei der Zeremonialjahre von jeweils zweihundertundsechzig Tagen abgedeckt, gleichzeitig aber auch zehn Schock aus jeweils zweiundfünfzig Jahren. Jawohl, höchst sinnreich!
Als der Regen aufhörte, setzte ich meinen Aufstieg fort. Allerdings legte ich die restlichen Stufen nicht in einem einzigen stürmischen Aufstieg auf einmal zurück, wiewohl ich sicher bin, daß ich das damals mit der ganzen Kraft meiner jungen Jahre hätte tun können, sondern verweilte auf jedem neuen Treppenabsatz lange genug, um zu sehen, ob ich nicht herausfinden könnte, welche Göttin oder welchen Gott die dort aufgestellte kleine Statue darstelle. Etwa die Hälfte von ihnen war mir bekannt: Tezcatlipóca, der Sonnengott, oberste Gottheit der Acólhua; Quetzalcoatl, von dem ich schon gesprochen habe; OmeTecútli und Omeciuatl, unser Erstes Götterpaar …
In den Gärten verweilte ich länger. Hier, auf dem Festland, herrschte weder Mangel an Ackerkrume, noch war zuwenig Platz vorhanden, und Nezahualpíli war offenbar jemand, der Blumen liebte, denn Blumen wuchsen überall. Die Gärten am Hang waren säuberlich in Beete aufgeteilt, die Terrassen jedoch nicht durch Mauern beengt. Infolgedessen ergossen sich die Blumen in großer Fülle über den Rand hinweg, und die Rankengewächse ließen ihre leuchtenden Blüten fast bis zur darunterliegenden Terrasse hinunterwachsen. Ich weiß, daß ich jede Blumenart sah, die ich zuvor in meinem Leben gesehen hatte, doch darüber hinaus zahllose andere, die ich noch nicht kannte; viele davon müssen unter großen Kosten von anderen Ländern hierhergebracht worden sein. Nach und nach ging mir dabei auf, daß die zahlreichen Wasserrosenteiche und blitzenden Wasserbecken, die Fischteiche, murmelnden Bäche und Wasserfälle zu einem Bewässerungssystem gehörten, welches mit Hilfe der Schwerkraft durch irgendeine, hoch oben auf der Spitze des Hügels gelegene Quelle gespeist werden mußte.
Falls der Herr Stark Knochen hinter mir hergestiegen war – zu sehen sollte ich ihn nicht bekommen. Allerdings stieß ich auf einem der höheren Terrassengärten auf einen anderen Mann, der sich dort auf einer Steinbank räkelte. Als ich nahe genug herangekommen war, um ihn einigermaßen deutlich zu erkennen – seine runzlige, kakaobraune Haut, sein zerschlissenes Schamtuch, das einzige, womit er bekleidet war –, erinnerte ich mich, daß ich ihm schon einmal begegnet war. Er erhob sich, zumindest bis zu der Höhe, wie seine gebeugte und verhutzelte Gestalt es zuließ. Ich war ihm mittlerweile über den Kopf gewachsen.
Ich bedachte ihn mit dem traditionellen höflichen Gruß, sagte dann jedoch vermutlich barscher, als ich wollte: »Ich hatte Euch für einen Tlaltelólcoer Bettler gehalten, alter Mann. Was tut Ihr hier?«
»Ein Heimatloser ist überall zu Hause«, erklärte er, als wäre das etwas, worauf man stolz sein könne. »Ich bin hier, dich im Land der Acólhua willkommen zu heißen.«
»Ihr!« entfuhr es mir, denn der kleine Mann paßte in diesen üppigen Garten womöglich noch weniger als unter die buntscheckige Menge auf dem Markt.
»Ja, hast du denn erwartet, vom Verehrten Sprecher höchstpersönlich begrüßt zu werden?« sagte er spöttisch grinsend und ließ dabei seine Zahnlücken sehen. »Willkommen im Palast von Texcotzinco, junger Mixtli. Oder junger Tozáni, junger Malinqui oder junger Poyautla – wie immer du willst.«
»Vor langer Zeit wußtet Ihr schon, wie ich heiße. Und jetzt kennt Ihr alle meine Spitznamen.«
»Jemand, der sich aufs Zuhören versteht, hört auch Dinge, die noch nicht einmal ausgesprochen worden sind. Du wirst später noch andere Namen erhalten.«
»Seid Ihr denn wirklich ein Seher, alter Mann?« fragte ich und wiederholte damit unbewußt die Worte meines Vaters vor vielen Jahren. »Woher habt Ihr gewußt, daß ich hierherkommen würde?«
»Ach, daß du hierherkommst!« sagte er. »Ich schmeichle mir, einen kleinen Teil dazu beigetragen zu haben, daß das geschehen würde.«
»Dann wißt Ihr wesentlich mehr als ich, und ich wäre Euch sehr dankbar, wenn Ihr mich ein wenig aufklärtet.«
»Dann wisse, daß ich dich vor jenem Tag in Tlaltelólco niemals gesehen
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