Der Azteke
habe – damals, als ich zufällig hörte, daß dein Namensgebungstag sei. Aus reiner Neugier habe ich die Gelegenheit benützt, dich ein wenig genauer anzusehen. Als ich deine Augen betrachtete, erkannte ich, daß du bald in zunehmendem Maße der Gabe des Weitsehens verlustig gehen würdest. Dieses Leiden kommt selten genug vor, so daß die Form des befallenen Augapfels einen unmißverständlichen Hinweis darstellt. Infolgedessen konnte ich mit Gewißheit voraussagen, daß es dir bestimmt sein würde, die Dinge aus großer Nähe und in ihrem wahren Wesen zu erkennen.«
»Ihr habt aber auch gesagt, daß ich die Wahrheit über diese Dinge aussprechen würde.«
Er zuckte mit den Achseln. »Für einen Jungen deines Alters schienst du mir aufgeweckt genug, um mit Sicherheit vorhersagen zu können, daß du einigermaßen intelligent werden würdest. Und jemand, der seines schwachen Sehvermögens wegen gezwungen ist, alles in dieser Welt aus größter Nähe zu betrachten und überdies noch mit einem gesunden Menschenverstand gesegnet ist, neigt für gewöhnlich dazu, die Welt so zu beschreiben, wie sie wirklich ist.«
»Ihr seid ein Schlitzohr«, sagte ich lächelnd. »Doch was hat all das damit zu tun, daß man mich hierher nach Texcóco geholt hat?«
»Jeder Herrscher, Fürst und Tecútli ist von einem Schwarm dienstbarer Geister und Speichellecker umgeben, die ihm sagen, was er hören will oder was sie wollen, daß er hört. Jemand, der nur die Wahrheit spricht, stellt einen weißen Raben unter dem Schwarm der Höflinge dar. Ich war der Meinung, daß du zu einem solchen weißen Raben werden könntest und deine Fähigkeiten an einem edleren Fürstenhof als dem von Xaltócan mehr geschätzt werden würden als woanders. Infolgedessen ließ ich hier ein Wort fallen und dort …«
»Ihr«, fragte ich, »besitzt das Ohr eines Mannes wie Nezahualpíli?«
Er bedachte mich mit einem Blick, der bewirkte, daß ich mir plötzlich wieder wie ein kleiner Junge vorkam. »Ich habe dir vor langer Zeit gesagt – und habe ich dir das denn immer noch nicht bewiesen? –, daß auch ich die Wahrheit spreche, und das durchaus zu meinem eigenen Nachteil, könnte ich doch ohne weiteres als allwissender Götterbote auftreten. Nezahualpíli ist nicht so zynisch wie du, junger Maulwurf. Er ist geneigt, auch noch dem Geringsten sein Ohr zu leihen, wenn dieser Mann nur die Wahrheit spricht.«
»Ich bitte Euch um Verzeihung«, sagte ich nach einigem Nachdenken. »Ich sollte Euch danken, statt an Euch zu zweifeln. Und ich bin Euch aufrichtig dankbar dafür, daß …«
Mit einer Handbewegung wehrte er ab. »Ich habe das nicht ausschließlich für dich getan, und es war nicht ganz uneigennützig von mir. Für gewöhnlich bekomme ich durchaus den Preis für das, was ich entdecke. Sieh du nur zu, daß du dem Uey-Tlatoàni treu dienst, und wir werden beide unseren Lohn empfangen. Jetzt geh!«
»Aber wohin? Niemand hat mir gesagt, wohin ich gehen oder an wen ich mich wenden soll. Brauche ich denn bloß über diesen Hügel hinwegzugehen und zu hoffen, daß man mich erkennt?«
»Ja. Der Palast liegt auf der anderen Seite, und du wirst erwartet. Ob der Sprecher selbst dich erkennen wird, wenn ihr das nächstemal zusammentrefft, vermag ich nicht zu sagen.«
»Wir sind uns nie begegnet«, klagte ich. »Wir können einander nicht kennen.«
»So? Nun, dann kann ich dir nur raten, die Gunst von Tolána-Teciuapil, der Dame von Tolan, zu erringen, denn sie ist die Favoritin unter den sieben angetrauten Ehefrauen Nezahualpílis. Bei der letzten Zählung hatte er außerdem vierzig Kebsweiber. Deshalb gibt es drüben im Palast einige sechzig Söhne und fünfzig Töchter des Verehrten Sprechers. Ich bezweifle, daß er selbst die letzte Aufstellung genau kennt. Vielleicht, daß er dich für einen vergessenen, außerehelichen Sproß hält, den er auf einer seiner Wanderungen in der Fremde gezeugt hat – für einen Sohn einfach, der jetzt heimgekommen ist. Aber keine Angst, Maulwurf, man wird dich gastlich willkommen heißen.«
Ich wandte mich zum Gehen, drehte mich dann jedoch nochmals um. »Könnte ich zuvor Euch irgendwie zu Diensten sein, Verehrungswürdiger? Vielleicht könnte ich Euch helfen, den Hügel hinaufzukommen?«
Er sagte: »Ich danke dir für dieses freundliche Anerbieten, aber ich werde noch eine Weile weiter hier rasten. Das beste ist, du steigst allein hinauf, denn auf der anderen Seite erwartet dich das ganze Leben, das noch vor dir
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