Der Azteke
Rede. »Sag mir nur eines: Was bedeutet das entenschnäbelige Gesicht?«
»Es bedeutet Ehécatl, den Wind, mein Herr.«
»Und noch etwas?«
»Nun, mein Herr, in Verbindung mit dem anderen Symbol,
dem der geschlossenen Augen, bedeutet es Nachtwind. Aber …« »Ja. Sprich nur, junger Mann.«
»Wenn der Herr mir meine Dreistigkeit nachsehen will: dieses eine Zeichen weist keinen Entenschnabel auf, sondern vielmehr die Windtrompete, durch welche der Windgott …«
»Genug. Das reicht!« Damit wandte der Fremde sich Rot Reiher zu. »Kein Zweifel, er ist es, Tecutli. Dann habe ich also Eure Erlaubnis?«
»Aber selbstverständlich, selbstverständlich«, sagte Rot Reiher geradezu unterwürfig. Und zu mir gewandt: »Das hier ist Herr Stark Knochen, Weibliche Schlange von Nezahualpíli, Uey-Tlatoáni von Texcóco. Herr Stark Knochen überbringt des Verehrten Sprechers persönliche Einladung an dich, an den Hof von Texcóco zu kommen und dort zu studieren und zu dienen.«
»Texcóco!« entfuhr es mir. Ich war noch nie dort gewesen, ja, überhaupt nirgendwo im Land der Acólhua. Ich kannte dort niemand, und kein Acóhuatl konnte dort jemals von mir gehört haben – ganz gewiß jedenfalls nicht der Verehrte Sprecher Nezahualpíli, welcher in allen diesen Ländern, was Macht und Ansehen betrifft, gleich nach Tixoc, dem Uey-Tlatoáni von Tenochtítlan kam. Ich war dermaßen überwältigt, daß ich ohne nachzudenken und gegen jedes Gebot der guten Manieren mit einem »Warum?« herausplatzte.
»Es handelt sich nicht um einen Befehl«, erklärte die Weibliche Schlange von Texcóco barsch. »Du wirst eingeladen, und du kannst annehmen oder ablehnen. Aber du bist nicht berechtigt, das Angebot in Frage zu stellen.«
Ich murmelte eine Entschuldigung, und Herr Rot Reiher kam mir zu Hilfe, indem er sagte: »Verzeiht dem Jüngling, mein Herr. Ich bin sicher, er ist wie vor den Kopf geschlagen, wie ich es im übrigen die ganzen Jahre über gewesen bin – daß eine so erhabene Persönlichkeit wie Nezahualpíli sein Augenmerk ausgerechnet diesem unter meinen vielen Macehuáltin zugewendet hat.«
Die Weibliche Schlange stieß nur ein leichtes Knurren aus, und so fuhr Rot Reiher fort: »Man hat mir nie eine Erklärung dafür abgegeben, warum Euer Gebieter sich ausgerechnet für diesen Macehuátl so besonders interessiert. Selbstverständlich erinnere ich mich an Euren letzten Gebieter, jenem Baum großen Schattens, den weisen und gütigen Herrn Hungernder Kojote, und weiß, daß er allein und in Verkleidung auf der Suche nach tüchtigen Männern, die seiner Gunst würdig sein könnten, Die Eine Welt zu durchstreifen pflegte. Setzt sein erlauchter Sohn Nezahualpíli diese wohltätige Gepflogenheit fort? Und wenn das zutrifft – was um alles auf der Welt sieht er in unserem jungen Untertan Tliléctic-Mixtli?«
»Das vermag ich nicht zu sagen, Tecútli.« Rot Reiher wurde von dem stolzen Edelmann eine ähnlich barsche Abfuhr zuteil wie mir zuvor. »Niemand stellt Gedanken und Absichten des Verehrten Sprechers in Frage. Und ich habe noch anderes zu erledigen, als darauf zu warten, bis ein unentschlossener junger Grünschnabel sich entscheidet, ob er eine so ungewöhnliche Ehre annimmt oder nicht. Morgen früh, sobald Tezcatlipóca aufsteht, kehre ich nach Texcóco zurück. Kommst du mit mir oder nicht?«
»Selbstverständlich komme ich mit, mein Gebieter«, sagte ich. »Ich brauche nur ein paar Kleider, Papier und Farben zusammenzupacken.
Oder soll ich irgend etwas Bestimmtes mitbringen?« fügte ich mutig hinzu in der Hoffnung, auf diese Weise irgendeinen Hinweis darauf zu ergattern, warum und für wie lange ich mit sollte.
Doch er sagte nur: »Alles Notwendige wird bereitgestellt.«
Rot Reiher sagte: »Sei bei Tonatíu-Aufgang am Landesteg des Palasts zur Stelle, Mixtli.«
Herr Stark Knochen bedachte erst unseren Tecútli und dann mich mit einem kühlen Blick und sagte dann: »Du tust gut daran, den Sonnengott von nun an Tezcatlipóca zu nennen, junger Mann.«
Von jetzt an für immer! überlegte ich, als ich allein nach Hause eilte. Sollte ich für den Rest meines Lebens von den Acólhua als einer der ihren aufgenommen werden und zu den Acólhua-Göttern beten?
Als ich meinen wartenden Eltern und meiner Schwester berichtete, was geschehen war, sagte mein Vater aufgeregt: »Nacht Wind! Genauso, wie ich es dir gesagt habe, Sohn Mixtli! Es war der Gott Nacht Wind, dem du vor Jahren an der Wegkreuzung begegnet bist. Und Nacht
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