Der Azteke
daß ich seit fast einem Jahr von daheim fort war und dieses Jahr sich jetzt seinem Ende näherte.
»Während der fünf hohlen Tage kommt alle Tätigkeit zum Erliegen«, sagte der junge Prinz. »Deshalb werden wir in diesem Jahr die Gelegenheit wahrnehmen zu packen und mit dem gesamten Hof in unseren Palast in Texcóco umzuziehen, um den Mond des Cuähuitl Ehua dort feiern zu können.«
Das war der erste Mond unseres Sonnenjahres. Sein Name bedeutet: Der Baum Ist Aufgerichtet, was sich auf die vielen Feierlichkeiten bezieht, in deren Verlauf die Menschen aller Stämme den Regengott Tlaloc anzuflehen pflegten, die Regenzeit im kommenden Sommer möge reichliche Regengüsse bringen.
»Und du wirst bei der Gelegenheit deine Familie wiedersehen wollen«, fuhr Weide fort. »Deshalb bitte ich dich, mach mir die Freude und sei einverstanden, wenn ich dir mein persönliches Acáli zur Verfügung stelle, dich dorthin zu bringen. Am Ende des Cuáhuitl Ehua werde ich es wieder hinschicken, dann kannst du dich dem Hof von Texcóco wieder anschließen.«
Das kam alles sehr plötzlich, doch ich nahm an und dankte ihm, so fürsorglich an mich gedacht zu haben.
»Nur eines«, sagte er. »Kannst du dich morgen früh schon zeitig bereithalten? Denn, verstehst du, Kopf Neiger, meine Ruderer wollen selbstverständlich vor Beginn der leblosen Tage sicher wieder am heimatlichen Gestade gelandet sein.«
Ah, der Herr Bischof! Wieder freue ich mich und fühle ich mich geehrt daß Euer Exzellenz sich unserem kleinen Kreis wieder beigesellen. Und abermals nimmt Euer unwürdiger Diener allen Mut zusammen, Euer Exzellenz ehrerbietig zu begrüßen und willkommen zu heißen.
… Jawohl, ich verstehe, Euer Exzellenz. Ihr sagt, ich hätte bisher noch nicht ausführlich genug davon berichtet, wie mein Volk seine Religion ausgeübt hat; und daß Ihr insbesondere mit eigenen Ohren zu hören wünscht, wieso und warum wir von einer so abergläubischen Furcht vor den hohlen Tagen erfüllt waren; daß Ihr aus erster Hand einen Bericht über die einen ganzen Mond hindurch andauernden heidnischen Bittrituale an den Regengott zu hören begehrt. Ich verstehe, Euer Exzellenz, und ich werde Euren verehrten Ohren nichts vorenthalten. Sollten meine alten Gedanken in der Erinnerung abschweifen oder meine Zunge allzu leichtfertig über Einzelheiten von Bedeutung hinweggehen, bitte, zögert nicht, mich zu unterbrechen und mich um eingehendere Erklärungen zu bitten.
Wißt also, daß Prinz Weides schöngeschnitztes, mit Banner und Sonnensegel ausgestattetes Acáli mich am sechstletzten Tag des Jahres Sechs Haus wieder am Landesteg von Xaltocan an Land steigen ließ. Mein prachtvolles geliehenes Boot mit den sechs Ruderern ließ das sonnensegellose, zweiruderige Kanu des Herrn Rot Reiher, welches zufällig an eben diesem selben Tag seinen Sohn für den Zeremonial-Mond Cuáhuitl Ehua von der Schule abgeholt hatte, recht schäbig daneben erscheinen. Ich war sogar auffallend besser gekleidet als dieser junge Provinzprinz, und Pactli bedachte mich unwillkürlich mit einem gewinnenden Kopfnicken, ehe er mich erkannte und sein Gesicht zu einer eisigen Maske erstarrte.
In meinem Elternhaus wurde ich willkommen geheißen wie ein Held, der aus einem Krieg heimkehrt. Mein Vater legte mir die Hände auf die Schultern, welche nunmehr nahezu genauso hoch und breit waren wie die seinen. Tzitzitlíni schlang beide Arme um mich und drückte mich in einer herzlichen Geste an sich, die jedem Zuschauer als nichts weiter denn schwesterlich erscheinen mußte, der nicht sah, daß sie mir sanft und doch vielsagend ihre Fingernägel in den Rücken grub. Mit Absicht hatte ich meinen allerschönsten reichbestickten Umhang mit der Blutsteinspange umgelegt und die vergoldeten Sandalen angezogen, deren Verschnürung fast bis zum Knie hinaufreichte.
Freunde, Verwandte und Nachbarn drängten herein, um den heimgekehrten weitgereisten Sohn zu bestaunen. Unter ihnen befanden sich, wie ich voller Freude feststellte, auch Chimali und Tlatli, die beide gebeten hatten, auf einem Fracht-Acáltin, der Kalkstein nach Tenochtítlan gebracht hatte, mitgenommen zu werden, und der jetzt die leblosen Tage dümpelnd an seiner Vertäuung verbrachte. In den drei Zimmern meines Elternhauses, die mir merkwürdig klein geworden vorkamen, und im Garten drängten sich die Besucher. Ich schob das nicht darauf, daß ich persönlich so beliebt gewesen wäre, sondern auf die Tatsache, daß um Mitternacht die hohlen
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