Der Azteke
Tage begannen, während derer keinerlei geselliges Beisammensein möglich war.
Nur wenige der hier Versammelten mit Ausnahme meines Vaters und einiger anderer Steinhauer waren jemals von unserer Insel fortgewesen, und so war es nur allzu natürlich, daß sie begierig waren zu hören, wie es in der Welt draußen aussah. Aber sie stellten nur wenige Fragen; sie schienen es zufrieden, mir und Chimàli und Tlatli zuzuhören, die wir Erfahrungen über unsere verschiedenen Schulen austauschten.
»Schulen!« schnaubte Tlatli verächtlich. »Für die Arbeit in der Schule bleibt uns nur sehr wenig Zeit. Jeden Morgen bei Tagesanbruch wecken uns die dreckigen Priester, und dann müssen wir unsere Wohnräume und alle anderen Räumlichkeiten des ganzen Gebäudes ausfegen. Dann geht es hinaus an den See, um die Chinámpa der Schule zu bearbeiten und Mais und Bohnen für die Schulküche zu brechen und zu pflücken. Oder wir müssen aufs Festland hinüber, um Holz für die heiligen Feuer zu schlagen und Beutel mit Dornen des Maguey-Strauchs zu holen.«
Ich sagte: »Das mit dem Gemüse und dem Feuerholz kann ich verstehen, aber wozu die Dornen?«
»Zur Kasteiung und Bestrafung, Freund Maulwurf«, knurrte Chimàli. »Verstößt du auch nur im geringsten gegen die Vorschriften, wirst du von einem Priester gezwungen, dich selbst wiederholt mit einem Dorn zu stechen. In die Ohrläppchen, die Daumen und Arme, ja selbst in dein Tepuli. Ich bin am ganzen Körper von Stichen übersät.«
»Aber selbst diejenigen, die sich tadellos benehmen, haben zu leiden«, fügte Tlatli hinzu. »Einen um den anderen Tag ist bestimmt der Festtag des einen oder anderen Gottes, darunter viele, von denen ich noch nie gehört habe, und dann muß jeder Junge Blut als Opfergabe spenden.«
Einer der Zuhörer fragte: »Und wann habt ihr Zeit zum Studieren?«
Chimàli schnitt ein Gesicht. »Das bißchen Zeit, das uns bleibt, hilft uns nicht sonderlich. Die Priester sind keine gelehrten Männer. Sie wissen nichts weiter als das, was in den Schulbüchern steht, und diese Bücher sind alt und schmutzig, und die Borkenfasern, aus denen sie bestehen, zerbröseln.«
Tlatli sagte: »Chimàli und ich haben allerdings Glück. Wir sind ja nicht hingegangen, um aus Büchern zu lernen, und deshalb ficht es uns nicht sonderlich an, daß wir dazu kaum Zeit haben. Dafür verbringen wir den größten Teil unserer Tage in den Werkstätten der großen Kunstmeister, die ihre Zeit nicht mit Geschwätz über Religiöses vertrödeln. Sie nehmen uns ganz schön ran, und deshalb lernen wir wirklich, wozu wir eigentlich hingegangen sind.«
»Ein paar andere Jungen tun das auch«, sagte Chimàli. »Man hat sie gleichfalls in die Lehre gegeben – bei Wundärzten, Federarbeitern, Musikern und so weiter. Leid tun mir diejenigen, die hingekommen sind, um Dinge zu lernen, die auf reinem Schulwissen beruhen wie die Kunst der Bilderschrift. Wenn sie nicht gerade an Ritualen und Bußübungen teilnehmen und niedere Arbeiten verrichten, werden sie von Priestern unterrichtet, die genauso unwissend sind wie die Schüler selber. Du kannst von Glück sagen, Maulwurf, daß du nicht eine Calmécac besuchst. Dort gibt es wenig zu lernen, es sei denn, du hättest den Wunsch, selber Priester zu werden.«
»Und kein Mensch«, erklärte Tlatli und erschauderte, »würde Priester irgendeines Gottes werden wollen, es sei denn, er hätte den Wunsch, niemals mit einer Frau zu verkehren, niemals Octli zu trinken oder auch nur ein einziges Mal in seinem Leben ein Bad zu nehmen. Und es sei denn, er genösse es, sich selbst Schmerzen zuzufügen und zuzusehen, wie andere Menschen Schmerzen erleiden.«
Einst war ich neidisch auf Tlatli und Chimáli gewesen, als sie ihre besten Umhänge umnahmen und auf ihre verschiedenen Schulen zogen. Jetzt saßen sie da, trugen immer noch dieselben Umhänge, und jetzt war ich es, den sie beneideten. Ich brauchte kein einziges Wort über das luxuriöse Leben zu verlieren, das ich am Hofe Nezahualpílis führte. Sie waren schon beeindruckt genug, als ich erzählte, daß unsere Lehrbücher auf geräucherter Kitzhaut gemalt waren, damit sie länger hielten; und als ich vom Fehlen religiöser Unterbrechungen berichtete, von den wenigen Regeln und der geringen Strenge, der Bereitwilligkeit unserer Lehrmeister, uns zusätzlich einzeln zu unterrichten.
»Man stelle sich das einmal vor!« murmelte Tlatli. »Lehrer, die wirklich etwas von dem verstehen, was sie
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