Der Baader-Meinhof-Komplex (German Edition)
denken«, sagte »Erwin«. Hoff fragte, worum es denn bei dem Film gehe. »Eine Art Revolutionsfiktion«, antwortete Holger Meins. In den üblichen Requisitenkatalogen könne man nur ziemlich primitives Zeug finden. Er zeigte Hoff ein Handgranatenoberteil mit einem himmelblau gespritzten Blechbügel. Das Ganze sah wie ein Spielzeug aus. Meins erklärte ihm die Funktionsweise und fragte, ob er das Ding in etwas »urigerer« und »knuffigerer« Ausführung nachbauen könne. Hoff stellte ein gutes Dutzend Duplikate her und bekam dafür 500 Mark in bar.
Innerhalb der Gruppe erhielt er den Decknamen »Pfirsich«.
37. »Sechs gegen sechzig Millionen«
Am 22 . Dezember 1971 überfielen mindestens vier Personen die Zweigstelle der Hypotheken- und Wechselbank in der Fackelstraße in Kaiserslautern. Sie erbeuteten rund 100 000 Mark und ausländische Währung im Wert von etwa 35 000 Mark. Um den ungestörten Ablauf der Aktion zu sichern, hatten Helfer kurz vor dem Überfall das Tor des in der Nähe der Bank gelegenen Polizeireviers mit ihren Autos blockiert.
Der Überfall begann um 8 . 00 Uhr. Ein roter VW -Bus hielt vor der Bank. Bis auf den Fahrer hatten alle Insassen Pudelmützen mit Sehschlitzen über die Köpfe gezogen und waren einheitlich mit grünen Parkas bekleidet. Sie stürmten mit gezogenen Pistolen in die Bank: »Überfall! Hände hoch! An die Wand!« Einer sprang über die Brüstung zur Sortenkasse und räumte sie aus, während ein anderer in die Hauptkasse vordrang und das Geld in seine Aktentasche stopfte. Dann wurde der Kassierer aufgefordert, den Tresor zu öffnen.
In der Zwischenzeit war draußen auf der Straße einem zufällig vorbeikommenden Polizeibeamten aufgefallen, daß ein roter VW -Bus vor der Bank verkehrswidrig parkte. Er trat an das Beifahrerfenster. Plötzlich fiel aus dem Wageninnern durch die Scheibe ein Schuß. Der Polizist Herbert Schoner wurde von Glassplittern an Hals und Gesicht verletzt. Der Mann auf dem Fahrersitz gab einen zweiten Schuß ab, der den Polizisten in den Rücken traf. Lebensgefährlich verletzt brach der Beamte zusammen, riß im Fallen seine Pistole hoch und erwiderte das Feuer. Er schleppte sich in den Kassenraum der Bank. Auf dem Tresen hockte einer der Bankräuber. Er schoß auf den Polizisten. Später stellten die Gerichtsmediziner fest, daß jeder dieser Schüsse für sich allein tödlich gewesen wäre.
Ohne auf das Öffnen des Tresors zu warten, ergriffen die Bankräuber die Flucht. Eine Damenhandtasche und einen Kassettenrecorder, den sie auf einem Tisch abgestellt und eingeschaltet hatten, ließen sie zurück. Sie sprangen in den VW -Bus und rasten davon.
Am nächsten Morgen, es war der Tag vor Heiligabend 1971 , machte »Bild« mit der Schlagzeile auf: »Baader-Meinhof-Bande mordet weiter. Bankraub: Polizist erschossen«.
Die Voreiligkeit, mit der die BM -Gruppe zunehmend für alles und jedes verantwortlich gemacht wurde, signalisierte eine weitere Verschärfung des innenpolitischen Klimas. Zwei Wochen später veröffentlichte der »Spiegel« einen Artikel Heinrich Bölls unter der Überschrift: »Will Ulrike Gnade oder freies Geleit?« Der Aufsatz spiegelte die Ratlosigkeit vieler Linker und Liberaler dem Privatkrieg der RAF gegenüber.
»Es ist eine Kriegserklärung von verzweifelten Theoretikern«, schrieb Böll, »von inzwischen Verfolgten und Denunzierten, die sich in die Enge begeben haben, in die Enge getrieben worden sind und deren Theorien weitaus gewalttätiger klingen, als ihre Praxis ist … Es kann kein Zweifel bestehen: Ulrike Meinhof hat dieser Gesellschaft den Krieg erklärt, sie weiß, was sie tut und getan hat, aber wer könnte ihr sagen, was sie jetzt tun sollte? Soll sie sich wirklich stellen, mit der Aussicht, als die klassische rote Hexe in den Siedetopf der Demagogie zu geraten?«
Der Schriftsteller machte eine Rechnung auf: sechs RAF -Leute gegen sechzig Millionen Bundesbürger.
»Das ist tatsächlich eine äußerst bedrohliche Situation für die Bundesrepublik Deutschland. Es ist Zeit, den nationalen Notstand auszurufen. Den Notstand des öffentlichen Bewußtseins, der durch Publikationen wie ›Bild‹ permanent gesteigert wird …
Muß es so kommen? Will Ulrike Meinhof, daß es so kommt? Will sie Gnade oder wenigstens freies Geleit? Selbst wenn sie keines von beiden will, einer muß es ihr anbieten. Dieser Prozeß muß stattfinden, er muß der lebenden Ulrike Meinhof gemacht werden, in Gegenwart der
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