Der Baader-Meinhof-Komplex (German Edition)
gestohlen gemeldeten Ford Transit verfolgt. In der Eisenacher Straße in Berlin stoppten sie den Lieferwagen und einen gleichfalls gestohlenen roten VW -Variant. Die Polizeibeamten versuchten, die vier Insassen beider Wagen festzunehmen. Einer rannte sofort davon, die anderen drei stellten sich mit erhobenen Händen an eine Hauswand. Der eine Beamte – in Zivil – tastete sie nach Waffen ab. Ein Anwohner beobachtete die Szene vom Fenster aus und rief die Polizei an. Aufgeregt sagte er: »In der Eisenacher Straße, Ecke Fugger, werden drei junge Leute mit der Pistole bedroht von einem. Ich weiß nicht, ob das schon die Auswirkung der Baader-Jagd ist. Können Sie mal sofort da hinfahren?«
»Eisenacher, Ecke …« wiederholte der diensthabende Beamte am anderen Ende der Leitung.
»Fugger, das Antiquitätengeschäft gegenüber vom Spielplatz«, rief der Beobachter, der das Telefon mit ans Fenster genommen hatte.
»Was is ’n da?« fragte der Polizist.
»Da werden drei junge Leute von einem mit der Pistole bedroht. Die lehnen sich jetzt an die Wand, mit erhobenen Händen und so.«
»Bedrohung mit Pistole, ja«, wiederholte der Beamte.
»Von einem Zivilisten, nicht Polizisten.«
»Wir kommen hin.« Der Beamte hatte verstanden. In diesem Moment wurde geschossen. »Es wird geschossen, schnell«, schrie der Anrufer.
»Ja, bleiben Sie bitte dran.«
Die Stimme des Zeugen überschlug sich: »Einer liegt, einer liegt, es wird geschossen. Hören Sie, hören Sie, hören Sie. Einer ist erschossen …«
»Bleiben Sie ruhig, der Funkwagen ist schon unterwegs.«
»Wir gucken vom Balkon. Schnell jetzt … oh, Mensch. Mir gehen die Nerven durch, verdammt.«
»Ganz ruhig bleiben«, sagte der Polizist. »Der Funkwagen ist unterwegs. Können Sie eine Täterbeschreibung geben?«
»Nein, nicht, nichts, gar nichts. Wir wohnen zu weit weg davon, wir sind im dritten Stock hier …«
»Bleiben Sie bitte dran. Ich gebe dem Funkplatz Bescheid.«
»Da putzt einer sein Auto unten. Einer liegt da, der liegt da …«
»Sind Sie noch dran?« fragte der Beamte.
»Einer ist wahrscheinlich tot. Der liegt da reglos.«
»Da liegt jemand, ja?« fragte der Polizist.
»Tot vor dem Geschäft gegenüber vom Spielplatz.«
»Bleiben Sie bitte am Apparat«, sagte der Beamte.
»Ja gut, ja.«
»Feuerwehr fährt schon.«
»Ist ja ein dolles Ding, Mensch, und die Leute putzen da ihr Auto weiter, als sei nichts geschehen, und die Leute sind seelenruhig. Ich begreife nichts.«
»Ach du Schande«, sagte der Polizist. »Das ist eben die heutige Zeit.«
Das Gespräch war in der polizeilichen Notrufzentrale auf Band aufgenommen worden. Der Tote war Georg von Rauch, Professorensohn aus Kiel.
Er war Bommi Baumanns bester Freund gewesen. Jetzt lag er auf dem Straßenpflaster, mit einem Schuß durchs Auge getötet. Baumann hatte gesehen, daß von Rauch zuerst die Pistole gezogen und geschossen hatte. Aber welchen Unterschied machte das schon? Baumann rannte davon, die Pistole immer noch in der Hand. Auf dem Kurfürstendamm geriet er in eine Gruppe Hare-Krishna-Jünger. Mit fuchtelnder Pistole konnte er die orange gekleideten Gestalten dazu bewegen, ihn durchzulassen. Dann flüchtete er in die Wohnung von Bekannten. Während unten auf der Straße die Polizei nach ihm suchte, ließ er sich von zwei dort wohnenden Teenagern auf die Straße begleiten und ging mit ihnen direkt an den Polizeikontrollen vorbei. Die Mädchen waren einer Ohnmacht nahe.
Baumann fand in einer Hinterhauswohnung Zuflucht. Nach einiger Zeit nahm er Kontakt zu Andreas Baader auf: Die »Bewegung 2 . Juni« brauchte Hilfe.
Einige Wochen später, an einem Vormittag, trafen sie sich. Baumann hatte sich die Zeit zuvor fast nur nachts auf die Straße gewagt. An diesem hellen Wintermorgen blendete ihn das ungewohnte Licht so sehr, daß er kaum etwas erkennen konnte. Er kniff die Augen zusammen. Baader trug einen langen Schlosserkittel. In der Hand hielt er eine Plastiktüte mit Äpfeln, dazwischen steckte eine Maschinenpistole. Baader ging in der Mitte der Straße. Rechts und links von ihm auf dem Bürgersteig patrouillierten je drei seiner Leute. Auch sie trugen Plastiktüten, in denen ebenfalls kleine Maschinenpistolen eines englischen Typs versteckt waren. Baumann kannte die Waffen.
Nur einem der Begleiter war er schon einmal begegnet: Holger Meins. Die anderen waren ihm unbekannt. Alle waren in Mäntel mit hochgeschlagenen Kragen, Pelzmützen und Schals gehüllt.
Baumann
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