Der Baader-Meinhof-Komplex (German Edition)
zwei Wochen nachdem Haag abgetaucht war, begann der Prozeß in Stammheim.
4. Kapitel Der Prozeß: Die Baader-Meinhof-Gruppe vor Gericht
1. Die Mehrzweckhalle
( 1 . Tag, 21 . Mai 1975 )
Ein Denkmal aus Stahl und Beton hatte man ihnen schon zu Lebzeiten errichtet. Für den Prozeß gegen den »harten Kern« der Baader-Meinhof-Gruppe ließen die baden-württembergischen Justizbehörden auf einem Kartoffelacker neben der modernsten Strafanstalt Europas ein neues Prozeßgebäude bauen. Die »Mehrzweckhalle«, in wenigen Monaten aus Fertigteilen montiert, kostete zwölf Millionen Mark. Das fensterlose Gebäude sollte später als Werkhalle für die Häftlinge der Vollzugsanstalt Stuttgart-Stammheim genutzt werden.
Im Sitzungssaal, 610 Quadratmeter groß und hoch wie eine Turnhalle, konnten 200 Zuhörer untergebracht werden. Weder die Heizungs- und Belüftungsrohre unter der Decke noch die Stahlkonstruktion des Daches wurden verkleidet. Die Wände bestanden aus nacktem Beton. Gelbe Plastiksitze für das Publikum, weiße Tische für Richter, Staatsanwälte, Verteidiger und Angeklagte. Modern und funktionell. Der Saal hätte auch die Aula einer modernen Gesamtschule sein können, eine notdürftig möblierte Sporthalle oder ein Dorfgemeinschaftshaus.
An der Stirnseite hing ein überdimensionales Wappen des Bundeslandes Baden-Württemberg.
Die Justizbehörden wollten ein normales Strafverfahren führen, die Angeklagten und ihre Anwälte einen politischen Prozeß. Ensslin-Verteidiger Otto Schily, viele Jahre später Bundesinnenminister, sagte 1975 : »Ein politischer Prozeß würde bedeuten, daß in dem Prozeß dargestellt werden kann, was die politischen Auffassungen, die politischen Ziele der Roten Armee Fraktion sind.«
Der Vorsitzende Richter Dr. Theodor Prinzing erklärte 32 Jahre später: »Baader konnte kühl kalkulieren, und Baader war wirklich für mich ein hochintelligenter Desperado, der kraft seiner verkrachten Laufbahn bis dahin in dieser neuen Laufbahn als Revolutionär eine Selbstbestätigung fand.«
Bei allen lautstarken Differenzen zwischen Angeklagten und Verteidigung auf der einen, Gericht und Bundesanwaltschaft auf der anderen Seite hatte man sich von Anfang an auf eines geeinigt: Der Prozeß sollte vollständig auf Tonband aufgenommen und abgeschrieben werden. Einige der Bänder sind erhalten geblieben und erst 2007 wieder entdeckt worden.
Am 21 . Mai 1975 begann in der Stammheimer Mehrzweckhalle der Prozeß gegen Andreas Baader, Gudrun Ensslin, Ulrike Meinhof und Jan-Carl Raspe. Es war ein sonniger Tag, rund um die Prozeßfestung drängten sich die Menschen wie bei einem Volksfest. Reiter der Polizei patrouillierten um das mit Stacheldraht abgesicherte Gebäude. Der Luftraum über dem Gefängnis und der Mehrzweckhalle war gesperrt. Innenhof und Dach des Prozeßgebäudes waren mit einem Netz aus Stahl überspannt, so daß auch Sprengkörper aus der Luft keinen Schaden anrichten konnten.
Die überbordenden Sicherheitsvorkehrungen hatten ihren Grund sicher auch darin, daß niemand im Behördenapparat persönliche Verantwortung für denkbare Risiken übernehmen wollte. Etwas zuviel Sicherheit schien allemal besser als etwas zuwenig.
Anwälte, Zuschauer und Journalisten wurden vor Betreten des Sitzungssaals einer Leibesvisitation unterzogen. Hosentaschen mußten geleert werden, ihr Inhalt wurde in Klarsichthüllen verpackt und eingeschlossen. Selbst angebrochene Zigarettenpackungen mußten abgegeben werden, dafür gab es im Vorraum des Verhandlungssaals einen Zigarettenautomaten, aus dem sich die Besucher neu bedienen konnten. Kugelschreiber wurden konfisziert; Journalisten erhielten als Ersatz behördeneigene Bleistifte. Für alles war gesorgt worden, nicht nur in baulicher und organisatorischer Hinsicht.
Die im Vorfeld des Stammheimer Verfahrens vom Bundestag geänderte Strafprozeßordnung hatte zur Folge, daß Baaders Anwälte Croissant, Groenewold und Ströbele kurz vor Beginn der Hauptverhandlung ausgeschlossen worden waren. Als der Prozeß begann, hatte Andreas Baader keinen Verteidiger.
Prinzing erklärte vor vollbesetztem Saal: »Die Sitzung ist eröffnet … Schön«, sagte er dann, »damit komme ich zum Aufruf der Strafsache gegen Andreas Baader, Ulrike Meinhof, Gudrun Ensslin, Jan-Carl Raspe.«
Er zählte die Namen der anwesenden Verteidiger auf: die Rechtsanwälte von Plottnitz, Riedel, Marielouise Becker und Schily. Sie waren die Vertrauensverteidiger der Angeklagten.
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