Der Baader-Meinhof-Komplex (German Edition)
Erhard, Kurt Georg Kiesinger, Walter Scheel …
Die beantragte Beweiserhebung solle ergeben, daß die Regierungen der USA durch ihr militärisches Eingreifen in Vietnam und Kambodscha Völkerrechtsverbrechen begangen, daß sie auch vom Boden der Bundesrepublik aus operiert hätten und daß demnach die Rechtsfrage entscheidungserheblich sein könne, ob seinerzeit »Gewaltanwendung gegen bestimmte militärische Einrichtungen der USA auf dem Territorium der Bundesrepublik, so Bombenangriffe auf US -Stützpunkte in Frankfurt und Heidelberg, gerechtfertigt waren«.
Die Anwälte blätterten zur Begründung ihrer Anträge das gesamte Grauen des Indochinakrieges auf.
Als die Verteidiger ihre Anträge verlesen hatten, setzte Jan-Carl Raspe zu einer Erklärung an: »Wir akzeptieren diese Anträge, wir haben sie auch zum Teil konzipiert. Das heißt also formal, daß wir uns diesen Anträgen anschließen. Wir halten sie für korrekt. Aber natürlich fassen wir unsere Politik nicht in völkerrechtliche Kategorien … Was hier im absurden Versuch, revolutionäre Politik zu verurteilen, nur rauskommen kann, ist ein System von Lügen, falschen Aussagen …«
Der Vorsitzende entzog Raspe das Wort.
Dann war Andreas Baader an der Reihe: »Die Anträge sind möglich, weil sie zwei Zusammenhänge vermitteln. Sie fassen erstens, wenn das überhaupt juristisch möglich ist, die Widersprüche, aus denen diese Politik [der RAF ] sich entwickelt hat … Die Anträge werden unmittelbar natürlich hilflos sein. Tatsächlich hat gegenüber der verdeckten Konzeption dieses Verfahrens ein faschistischer Militärgerichtsprozeß wenigstens die Würde der Eindeutigkeit einer Maßnahme, die sich zu ihren Mitteln bekennen kann.«
Nach Baader ergriff Gudrun Ensslin das Wort:
»Wenn uns an der Sache 72 etwas bedrückt, dann das Mißverhältnis zwischen unserem Kopf und unseren Händen.
Wir wären militärisch gern effizienter gewesen. Hier noch mal einfach: Wir sind auch verantwortlich für die Angriffe auf das CIA -Hauptquartier und das Hauptquartier des 5 . US -Corps in Frankfurt am Main und auf das US -Hauptquartier in Heidelberg.
Insofern wir in der RAF seit ’ 70 organisiert waren, in ihr gekämpft haben und am Prozeß der Konzeption ihrer Politik und Struktur beteiligt waren.
Insofern sind wir sicher auch verantwortlich für Aktionen von Kommandos – zum Beispiel gegen das Springer-Hochhaus, von denen wir nichts wußten, deren Konzeption wir nicht zustimmen und die wir in ihrem Ablauf abgelehnt haben.«
Fast auf den Tag genau vier Jahre zuvor waren bei dem Anschlag der RAF auf das Hamburger Druckhaus des Axel Springer Verlages siebzehn Arbeiter und Angestellte verletzt worden. Den Bekennerbrief hatte Ulrike Meinhof geschrieben.
Als Gudrun Ensslin sich von dem Attentat distanzierte, erschienen in der Bundesrepublik seit einer Woche keine Zeitungen. Die Drucker streikten zum ersten Mal in der Geschichte der Bundesrepublik.
Als einzige der vier Stammheimer Angeklagten gab Ulrike Meinhof an diesem zentralen Prozeßtag keine Erklärung ab. Sie hörte sich die vorbereiteten Bekenntnisse ihrer Mitkämpfer zu den Anschlägen der RAF auch nicht an. Ulrike Meinhof blieb in ihrer Zelle.
Wenn es stimmt, was Ermittlungen der Polizei ergeben hatten, daß nämlich Ulrike Meinhof zumindest mitverantwortlich für den Anschlag auf das Hamburger Springer-Haus war, dann gibt es kaum Zweifel,
warum
sie nicht wieder im Prozeßsaal erschien. Die geplante Distanzierung Gudrun Ensslins vom Springer-Attentat mußte auf sie wie die öffentliche Aufkündigung der Solidarität wirken.
Vier Tage später war Ulrike Meinhof tot.
19. Der Tod der Ulrike Meinhof
Samstag, 8 . Mai 1976 , Jahrestag des Kriegsendes. Noch immer streikten die Drucker. Der folgende Sonntag war Muttertag. All diese Umstände wurden später zur Deutung dessen herangezogen, was in der Nacht vom 8 . auf den 9 . Mai im siebten Stock der Justizvollzugsanstalt Stuttgart-Stammheim geschah.
Am Sonntagmorgen um 7 . 34 Uhr öffneten zwei Beamte die Zelle 719 . Am Gitter ihres linken Zellenfensters, das Gesicht der Tür zugewandt, hing Ulrike Meinhof. Sechs Minuten später war Gefängnisarzt Dr. Helmut Henck zur Stelle. Er konstatierte, daß »der Körper schon total ausgekühlt« war, auf den Armen der Toten sah er »zahlreiche Leichenflecke«. Erst um 10 . 30 Uhr wurde der Leichnam vom Fenstergitter abgenommen. Bis dahin drängten sich mehr als ein Dutzend Polizeibeamte in
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