Der Baader-Meinhof-Komplex (German Edition)
der Zelle, sammelten Spuren, fotografierten jeden Winkel.
Die Ermittlungsbeamten rekonstruierten, wie Ulrike Meinhof gestorben sein mußte: Sie hatte eines der blauweißen Anstaltshandtücher in Streifen gerissen, aneinandergeknotet und daraus einen Strick gedreht. Dann schob sie ihr Bett unter dem Fenster zur Seite, legte die Matratze vor das Fenster und stellte einen Schemel darauf. Sie band den Strick fest um ihren Hals, stieg auf den Schemel und schlang das Ende des Stricks durch das engmaschige Fenstergitter. Dann sprang sie.
Einen Abschiedsbrief hinterließ sie nicht, aber schon Monate zuvor hatte sie an den Rand eines Zellenzirkulars geschrieben: »Selbstmord ist der letzte Akt der Rebellion.«
Vielleicht war es am Ende auch eine Rebellion gegen die Gruppe, die sie selbst mit aufgebaut hatte. Ihr geschiedener Ehemann, »konkret«-Gründer Klaus Rainer Röhl, sagte den gemeinsamen Kindern: »Eure Mami ist heute tot, seit heute, sie hat sich aufgehängt.«
»Anders«, so sagte er später, »ging das nicht. Das war auch die einfachste Lösung. Warum soll man da lange drum herum reden?«
Die RAF redete von Mord, doch intern ahnten einige, der Freitod war Ulrike Meinhofs Ausweg aus der Gruppe gewesen. Das RAF -Mitglied Silke Maier-Witt später: »Das war im Grunde genommen eine schwierige Sache, zu verkraften, zu sehen, daß da jemand ausgestiegen war. Es gab so einen Moment des Zweifelns: Also, wenn sie als diejenige, die im Grunde genommen die RAF ja am stärksten verkörpert hat, also, wenn die aussteigt, was bedeutet das?«
Am Mittag wurde die amtliche Obduktion im Stuttgarter Bürgerhospital vorgenommen. Die Professoren Rauschke und Mallach entnahmen dem Schädel das Gehirn und dem Leib Organteile für die spätere feingewebliche Untersuchung. Um 17 . 00 Uhr stand für die Mediziner das Ergebnis fest: Suizid durch Strangulierung. Keine Fremdeinwirkung.
Am Dienstag nach Ulrike Meinhofs Tod wurde die Leiche auf Veranlassung ihrer Schwester und der Verteidiger nachobduziert. Professor Dr. Werner Janssen vom Institut für Gerichtliche Medizin und Kriminalistik der Universität Hamburg sezierte noch einmal und formulierte anschließend für das Protokoll: »Nach den verwertbaren Befunden der Nachsektion handelt es sich bei Frau Meinhof um einen Tod durch Erhängen. Nach den bisher vorliegenden Untersuchungsbefunden besteht kein Anhalt für Fremdeinwirkung.«
Später versuchte eine »Internationale Untersuchungskommission«, Zweifel an der Selbstmordversion zu wecken. Dazu unterzog sie die amtlichen Ermittlungsergebnisse einer neuen, kritischen Überprüfung. So habe, hieß es in ihrem Bericht, die Stuttgarter Kriminalpolizei bei einer chemischen Untersuchung des Schlüpfers der Toten bei ihrer »Sperma-Vorprobe im Zwickelbereich« eine positive Reaktion nachgewiesen. Das wiederum wurde als Indiz für eine Vergewaltigung angesehen.
Ulrike Meinhof sexuell mißbraucht, anschließend erwürgt und dann in eine Schlinge gehängt, um Selbstmord vorzutäuschen?
Tatsächlich war die »Sperma-Vorprobe« ein allgemein üblicher Phosphatase-Test, der dem Nachweis bestimmter Fermente dient. Von denen gibt es viele, nicht nur im Sperma, sondern in jedem Eiweiß und auch als Folge bakterieller Verunreinigung. Deshalb fällt ein solcher Test in der Mehrzahl der Fälle positiv aus. Nur wenn er negativ verläuft, erübrigen sich weitere Spezialanalysen. Bei Ulrike Meinhof wurden weitere mikrochemische und mikroskopische Untersuchungen vorgenommen, die den eindeutigen Befund ergaben, daß die Eiweißspuren keine Samenfäden waren.
Weiteres wesentliches Verdachtsmoment der »Untersuchungskommission« waren Länge und Beschaffenheit des Handtuchstreifens. Er sei, so meinten die Gutachter, so dick gewesen, daß er nicht ohne Hilfsmittel durch die nur neun mal neun Millimeter große Maschendrahtöffnung am Fenstergitter geschlungen werden konnte. Ein Hilfsinstrument, wie etwa eine Pinzette, sei aber nicht gefunden worden. Auch hätte ein schmaler Handtuchstreifen, das habe ein Experiment der anderen Stammheimer Gefangenen ergeben, nicht die Last des Körpers halten können.
Schließlich die Frage nach dem Motiv. Die »Untersuchungskommission« kam zum Ergebnis: »Das Fehlen eines Abschiedsbriefes ist ein entscheidender Faktor. Dieser spricht … entschieden gegen Selbstmord und steht auch im Gegensatz zu allem, was wir sonst über sie wissen. Sie hatte ihre Überzeugung nicht aufgegeben, wußte, daß sie noch
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