Der Baader-Meinhof-Komplex (German Edition)
mehrere Wachbeamte die Jalousien herunter und öffneten die Klappen der elektronischen Kamera, mit der während der Nacht der Korridor überwacht wurde.
Kurz nach 16 . 00 Uhr kam Gudrun Ensslin von ihrem Anwaltsgespräch zurück in den Trakt. Sie ging in ihre Zelle, in der immer noch Andreas Baader zusammen mit Irmgard Möller stand.
Ein Justizbeamter schloß die Tür hinter ihr ab. Die drei waren erstaunt, denn erlaubt war nur der gemeinsame Aufenthalt von Frauen mit Frauen und Männern mit Männern in einer Zelle während der Nacht.
Um die Situation zu klären, drückte Irmgard Möller auf den Rufknopf. Ein Licht leuchtete auf, und wenige Augenblicke später öffnete der Beamte Münzing die Tür. Irmgard Möller verließ die Zelle wieder und ging über den Flur in ihre eigene Zelle, um noch ein paar Mappen zu holen. Währenddessen überprüfte Münzing das Gitter in Zelle 720 ; wie er später zu Protokoll gab, handelte es sich um eine »Routinekontrolle«. Dabei merkte er offenbar nicht, daß Andreas Baader immer noch in der Zelle war, vielleicht wollte er das auch nicht bemerken.
Als Irmgard Möller zurückkam, begegnete sie Münzing, der die Eckzelle gerade verließ. Sie betrat die Zelle, die Tür wurde hinter ihr verschlossen. Andreas Baader hockte immer noch vor dem Bücherregal.
Die drei fanden die Situation eher komisch und wollten sie auch nicht verändern. Baader, Ensslin und Möller überlegten, was das bedeuten könne. Schließlich war Baader unter den Augen von sechs Vollzugsbeamten in Gudrun Ensslins Zelle gegangen, auch Münzing konnte Baaders Anwesenheit nicht verborgen geblieben sein.
Inzwischen wurden die anderen Zellentüren abgesperrt, auch Baaders Zelle, Nummer 719 , ebenfalls eine Eckzelle. Offenbar fiel dem Schließer nicht auf, daß Baaders Zelle leer war.
Erst nach einer Stunde wurde die Abendruhe im Trakt abrupt gestört. Acht Beamte durchquerten den Flur.
Die Tür der Zelle 720 wurde wieder geöffnet. Gudrun Ensslin, so berichtete Irmgard Möller später, stand mitten im Raum, während Andreas Baader auf dem Bett lag. Irmgard Möller warf schnell eine Decke über Baader und verließ wortlos die Zelle.
Der Bericht der Vollzugsbeamten: »Baader wurde in bekleidetem Zustand neben Frau Ensslin liegend, mit einer Decke zugedeckt, gefunden. Frau Ensslin war ebenfalls bekleidet.«
Andreas Baader stand auf und ging in seine Zelle.
Den Gefangenen war das Verhalten der Beamten merkwürdig vorgekommen, denn normalerweise wurden ihre Bewegungen während des jeweils zweistündigen Umschlusses am Vor- und am Nachmittag sorgfältig überwacht. Ein Justizbeamter im Glaskasten am Kopfende des Korridors beobachtete genau, ob einer der Gefangenen in eine Zelle ging. Dann machte der Beamte einen Strich auf einer Liste und schickte drei Kollegen, die gewissermaßen als Eingreifreserve hinter einem Vorhang saßen, in den Trakt. Sekunden später standen sie dann in der Zellentür vor dem aus ihrem Blickfeld entschwundenen Gefangenen. Nur an diesem Freitag war das anders gewesen.
Am nächsten Morgen wurden die Zellen gegen 9 . 30 Uhr wieder aufgeschlossen. Die Gefangenen durften zum Umschluß auf den Flur. Aber anders als üblich wurden die Türen der Zellen 719 und 720 sofort wieder verschlossen. »Was soll denn das?« fragte einer der Gefangenen, und ein Beamter antwortete: »Das wird hier jetzt anders.«
Baader ging auf den Obersekretär zu und sagte: »Grossmann, es ist besser für Sie, wenn Sie sich ganz schnell versetzen lassen.« Er wandte sich zum Justizbeamten Hofer und ergänzte: »Das gilt auch für dich, du Arschloch.«
Am Nachmittag, um 14 . 55 Uhr, kurz vor dem Abrücken zum gemeinsamen »Hofgang« auf dem Dach des Zellentrakts, sprach Ingrid Schubert den Vollzugsbeamten Grossmann an: »Machen Sie die Tür auf, ich will in die Freßzelle.«
Der Beamte sagte: »Mit uns kann man reden.«
Baader trat hinzu: »Reden, du Ratte? Halt deine Gosch, sonst bekommst du ein Pfund.«
Den ganzen Tag über blieb die Atmosphäre gespannt, weil die Gefangenen es nicht hinnehmen wollten, daß die Zellen 719 und 720 während des Umschlusses von nun an ständig geschlossen bleiben sollten. Die Spannung stieg, als sich die Gefangenen am nächsten Morgen nach dem Aufschluß weigerten, ihre Zellen zu verlassen. Daraufhin wurden vor jeder Zellentür mehrere Beamte postiert. »Haut ab!« schrien die Gefangenen sie an. Aber die Beamten rührten sich nicht. Baader versuchte es mit einem
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