Der Baader-Meinhof-Komplex (German Edition)
die Oper wieder verließ und auf seinen »Gefechtsstand« zurückkehrte, konnte er die Schlußphase seiner Leberwursttaktik beobachten.
Es begann die Aktion »Füchse jagen«. Polizeitrupps rückten den flüchtenden Demonstranten nach. Kriminalbeamte in Zivil formierten sich zu Greiftrupps und überwältigten vermeintliche Rädelsführer. Sie reichten die Festgenommenen, vor allem jene, die durch Haar- und Barttracht aufgefallen waren, an ihre uniformierten Kollegen zur »Behandlung« weiter. Wieder mischten sich die »Jubelperser« unter die Beamten und griffen sich auf eigene Faust Demonstranten.
Im Dunkel der Nacht konnten die Studenten kaum noch ausmachen, wer Polizist, wer Zivilbeamter und wer Schahagent war.
Einer der Nichtuniformierten war der 39 Jahre alte Kriminalobermeister Karl-Heinz Kurras aus der Abteilung 1 , Politische Polizei. Zusammen mit seinen Kollegen bildete er einen Greiftrupp. Gegen 20 . 30 Uhr hielten sich die Beamten in der Nähe des Grundstücks Krumme Straße 66 / 67 auf.
Auf der einen Seite stand eine Kette von Polizisten, ihnen gegenüber ein letzter Pulk von Demonstranten. Sie riefen »Mörder« und »Notstandsübung«. Steine flogen in Richtung der Polizisten.
Einer der Beamten meinte, einen Rädelsführer zu sehen: Er trug einen Schnurrbart, ein rotes Hemd und Sandalen ohne Socken. Der Kriminalbeamte stürzte auf ihn zu. Karl-Heinz Kurras folgte seinem Kollegen. Sie stellten den Verdächtigen und rissen ihn zu Boden. Uniformierte Beamte kamen ihnen zur Hilfe. Demonstranten liefen dazu, umringten die Polizisten, es kam zum Handgemenge. Der niedergeworfene Student riß sich los, versuchte zu entkommen. Schutzpolizisten setzten nach, erreichten ihn, traktierten ihn mit Schlägen. Regungslos hing der Student in ihren Armen, sackte langsam zu Boden.
In diesem Augenblick war auch Karl-Heinz Kurras zur Stelle, in der Hand seine entsicherte Pistole vom Kaliber 7 , 65 Millimeter. Die Mündung war kaum einen halben Meter vom Kopf des Demonstranten entfernt, so jedenfalls erschien es Augenzeugen. Plötzlich löste sich ein Schuß. Die Kugel traf über dem rechten Ohr, drang in das Gehirn und zertrümmerte die Schädeldecke. Einer der Polizeibeamten hörte den Knall, drehte sich um und sah Kurras mit der Waffe in der Hand. »Bist du denn wahnsinnig, hier zu schießen?« schrie er. Kurras antwortete: »Die ist mir losgegangen.«
Der Demonstrant wurde in das städtische Krankenhaus Moabit gebracht, die Wunde zugenäht und als Todesursache zunächst Schädelbruch diagnostiziert.
Rechtsanwalt Horst Mahler übernahm noch in der Nacht die Vertretung der Witwe des toten Studenten. Am Morgen war er bei der Obduktion dabei: »Ich hab halt die Kugel in die Schale klicken hören, die da unter seiner Kopfschwarte steckengeblieben war. Also, es war klar: Das war ein Schuß.«
Der Name des Toten war Benno Ohnesorg, 26 Jahre alt, Student der Romanistik, ein Pazifist und aktives Mitglied der evangelischen Studentengemeinde. Er hatte das erste Mal in seinem Leben an einer Demonstration teilgenommen.
Der Regierende Bürgermeister, Pastor Heinrich Albertz ( SPD ), erklärte noch in der Nacht zum 3 . Juni: »Die Geduld der Stadt ist am Ende. Die Demonstranten haben sich das traurige Verdienst erworben, nicht nur einen Gast der Bundesrepublik Deutschland in der deutschen Hauptstadt beschimpft und beleidigt zu haben, sondern auf ihr Konto gehen auch ein Toter und zahlreiche Verletzte …«
Der 2 . Juni 1967 wurde zum historischen Datum, zum Wendepunkt im Denken und Fühlen vieler, nicht nur der Studenten. Auch der Berliner Regierende Bürgermeister Albertz, dessen späterer Rücktritt der Juni-Ereignisse wegen erfolgte, erfuhr durch den Tod Ohnesorgs eine tiefgreifende Wandlung. In seinen Erinnerungen schrieb er:
»Das Gerücht, ein Student sei erschossen, dann: ein Polizist sei erschossen, drang schon in die Oper. Ich saß steinern neben einer steinernen Farah Diba. Ich habe nie in meinem Leben so wenig von einer Oper gesehen und gehört. Ich glaube, es war Mozart. Als wir das Haus verließen, war die Straße leer von Demonstranten. Ich begleitete den Bundespräsidenten und den Schah zu ihren Wagen. Der meine stand auf dem Mittelstreifen, von der Polizei geschützt. Ich fuhr nach Hause. Ja, ich fuhr nach Hause. Warum fuhr ich nach Hause? Warum nicht ins Polizeipräsidium – warum von dort nicht ins Krankenhaus, zu dem toten Studenten? Äußerlich war alles klar: Ich war nicht Innensenator,
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