Der Baader-Meinhof-Komplex (German Edition)
zum Verzicht auf Befreiung durch Geiselnahme veranlassen wollte. Kurz nach Mitternacht kam ein höherer Beamter auf ihn zu. Er wirkte sichtlich erleichtert.
Bischof Helmut Frenz wußte nicht, warum. Er trug sein Anliegen vor. Der Beamte sagte, wenn es noch notwendig sei, könne man am nächsten Tag darüber reden.
Frenz fuhr nach Hause und versuchte, Heldmann telefonisch zu erreichen. Ohne Erfolg. Erst am nächsten Morgen hatte er ihn am Telefon. Im Rundfunk war gerade gemeldet worden, daß die Stammheimer Gefangenen Baader, Ensslin und Raspe in ihren Zellen tot aufgefunden worden waren.
47. Die Nacht von Stammheim
(Dienstag, 18 . Oktober 1977 )
Was sich in den knapp neun Stunden zwischen 23 . 00 Uhr und 7 . 41 Uhr im Hochsicherheitstrakt zutrug, wird wohl für immer ungeklärt bleiben – Material für Mutmaßungen, Spekulationen, Mythen.
Für die Ermittler vor Ort – Kriminalbeamte, medizinische Gutachter, Staatsanwälte – sprachen die Indizien eine einfache und eindeutige Sprache:
Jan-Carl Raspe hatte in seiner Zelle ein kleines Transistorradio. Nachdem er im Süddeutschen Rundfunk die Nachricht von der Befreiung der Geiseln in Mogadischu gehört hatte, informierte er über die Monate zuvor eingerichtete Kommunikationsanlage seine Mitgefangenen. In den Stunden darauf verständigten sich Andreas Baader, Gudrun Ensslin, Jan-Carl Raspe und Irmgard Möller über einen gemeinsamen Selbstmord.
Baader war vom 13 . September bis zum 4 . Oktober in der Zelle 715 untergebracht gewesen. Dort hatte er die Pistole vom Typ FEG , Kaliber 7 . 65 , aus einem Versteck in der Fensterwand geholt und bei der Rückverlegung in die Zelle 719 mitgenommen. Die Waffe verstaute er in seinem Plattenspieler, der ihm inzwischen wieder ausgehändigt worden war.
Nach der Verabredung zum kollektiven Selbstmord holte er die Pistole aus dem Plattenspieler und feuerte im Stehen – um einen Kampf vorzutäuschen – zwei Schüsse ab, einen in seine Matratze, einen in die Zellenmauer neben dem Fenster.
Dann suchte er die von der Pistole ausgeworfenen Patronenhülsen zusammen und legte sie neben sich. Er lud die Pistole nach, hockte sich auf den Zellenboden und setzte den Lauf der Waffe in seinen Nacken. Mit der einen Hand hielt er den Griff, mit der anderen den Lauf und drückte mit dem Daumen ab. Die Kugel trat im Nacken ein und an der Stirn, kurz über dem Haaransatz, aus.
Jan-Carl Raspe holte die Neun-Millimeter-Pistole vom Typ Heckler & Koch aus einem Versteck hinter der Fußleiste in seiner Zelle 716 und setzte sich aufs Bett. Dann drückte er den Lauf der Waffe an die rechte Schläfe und feuerte. Das großkalibrige Geschoß durchschlug seinen Schädel, streifte ein Holzregal und prallte gegen die Wand.
Gudrun Ensslin in Zelle 720 schnitt mit ihrer Schere ein Stück vom Lautsprecherkabel ab, rückte einen Stuhl vor das Zellenfenster, knüpfte den zweiadrigen isolierten Draht durch das feinmaschige Gitter, legte eine Schlinge um ihren Hals und stieß mit den Füßen den Stuhl zur Seite. In Zelle 725 nahm Irmgard Möller ein Besteckmesser aus Anstaltsbeständen, schob ihren Pullover hoch und stach sich viermal in die Brust. Die Stiche trafen den Herzbeutel, verletzten ihn aber nicht.
Irmgard Möller überlebte als einzige.
Sie erzählte eine andere Geschichte:
»In der Nacht habe ich lange wachgelegen und gelesen, mit einer Kerze aus Fett in einer Dose. Um 4 . 00 Uhr schrie ich zu Jan rüber: ›Bist du noch wach?‹ Er antwortete. Sein Tonfall war sehr wach, nicht bedrückt, nah, unheimlich lebendig. Die Kerze war ausgegangen, die zweite habe ich gegen 4 . 30 Uhr selber ausgemacht …
Ich lag auf der Matratze und habe gedämmert, mit dem Kopf zur Fensterseite. Wir waren nachts selten ausgezogen, und so verwunderte es nicht, daß ich auch in dieser Nacht angezogen geblieben war. Wir dachten ja wohl auch, daß wir noch wegkämen.
Etwa um 5 . 00 Uhr hörte ich es knallen und quietschen.
Diese Geräusche waren sehr leise und dumpf geblieben, wie wenn etwas herunterfällt oder ein Schrank verschoben wird. Ich habe die Knallgeräusche nicht sofort als Schüsse identifiziert. Sie haben keine Beunruhigung für mich dargestellt. Ich hatte keine Assoziationen mit einem Attentat. Das Quietschen kam nicht von meiner Tür oder der Zellenseite, es hätte von unten oder von der gegenüberliegenden Traktseite kommen können.
Ich bin danach auch wieder eingeschlafen. Plötzlich sackte ich weg und verlor das
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