Der Baader-Meinhof-Komplex (German Edition)
des kapitalistischen Systems müsse man »genauso umgehen wie mit Mordwerkzeugen aller Art; nämlich, man muß sich vor ihnen hüten, ihnen aus dem Weg gehen, wo es möglich ist, und da wo nicht, sie unschädlich machen«.
Das SPK begann, sich zu bewaffnen. Im »inneren Kreis«, der sich regelmäßig mittwochs abends bei Huber traf, wurden die Perspektiven für die Revolution erörtert. Huber glaubte, tausend Leute, richtig eingesetzt, würden für einen Umsturz ausreichen. Als Termin nannte er die Jahreswende 1972 / 73 . Bei der Festlegung der Zeitpläne gingen die Angehörigen des »inneren Kreises« von der bisherigen Wachstumsrate des SPK aus.
Zum Gründungszeitpunkt im Februar 1970 hatte das Kollektiv dreißig Mitglieder, Anfang März 1971 waren es angeblich fünfhundert. Huber sprach zu dieser Zeit davon, Kontakt zu anderen »Gleichgesinnten« aufzunehmen und mit ihnen zusammenarbeiten zu wollen. Vor allem die Gruppe um Baader, Ensslin und Meinhof erschien ihm dafür geeignet.
Im Frühjahr 1971 wurden die bis dahin losen Verbindungen zwischen SPK und RAF enger geknüpft. Die Baader-Meinhof-Gruppe war durch die Serie von Festnahmen immer kleiner geworden, ein gutes Dutzend Kernmitglieder befanden sich noch auf freiem Fuß. Zudem hatte sich die Gruppe durch den konspirativen Aufbau im Untergrund weitgehend selbst isoliert, hatte kaum noch Zugang zum legalen Umfeld und damit nur wenig Möglichkeiten, neue Mitglieder zu rekrutieren.
Eines Tages reisten Andreas Baader und Gudrun Ensslin nach Heidelberg, um Anwerbungsgespräche zu führen. Einigen SPK -Mitgliedern wurde der Treffpunkt genannt, und höchst konspirativ fuhren sie nacheinander mit der Straßenbahn dorthin.
Dabei war Gerhard Müller, damals 23 Jahre alt. Er war in einem kleinen Dorf in Sachsen geboren und 1955 mit seinen Eltern nach Westdeutschland gezogen. Gerhard Müller besuchte, nach einer kurzen Episode auf dem Gymnasium, die Volksschule. Eine Lehre als Fernmeldemechaniker brach er vorzeitig ab, riß nach Frankreich aus, kehrte zurück und arbeitete als Hilfsarbeiter in einer Brauerei.
Gerhard Müller ordnete die Gesellschaft in seiner Vorstellungswelt in Kreise ein und kam zu dem Ergebnis, daß er sich im falschen Kreis befand. Er begann, die »Unterwelt« zu idealisieren. Dort, so dachte er bei sich, müßten die Menschen ein anderes Verhältnis zueinander haben als in der bürgerlichen Gesellschaft. Seine bisherigen Ausreißtouren und die sich jedesmal anschließende reuevolle Rückkehr hatte er immer als Niederlage empfunden. Diesmal wollte er sich den Rückweg verbauen. Das erschien ihm gar nicht so einfach, und so beschloß er erst mal, sich zu betrinken. Als das geschafft war, nahm er Punkt zwei in Angriff. Er drang in eine Wäscherei in der Nachbarschaft ein und raubte dreißig Mark aus der Kasse, dann holte er aus dem Keller ein paar Flaschen Wein und aus dem nächsten Haus Zigaretten. Während er bepackt den Rückzug antrat, wurde er von einem wach gewordenen Nachbarn erkannt. Das war Gerhard Müller ziemlich gleichgültig, da er ja ohnehin weg wollte. Er ging nach Hause, packte noch ein paar Reiseutensilien zusammen und verließ die Wohnung durchs Fenster.
In seiner betrunkenen Phantasie malte er sich eine Riesenfahndung mit Hundertschaften von Polizisten und Bluthunden aus und marschierte zur Sicherheit erst einmal zehn Kilometer durch Wälder. An einem kleinen Bahnhof wartete er auf den Zug und fuhr nach Frankfurt. Dort wurde ihm sehr schnell klar, daß in der »Unterwelt« die Verhältnisse am kapitalistischsten, brutalsten und härtesten sind. »Hungrig, ohne Bett, doof und vom Lande«, wie er es später selbst formulierte, stand er da, ohne eine Mark in der Tasche. »Spaßeshalber hatte mir mal jemand vor dieser Untergrund-Reise erzählt, daß auch Männer auf den Strich gehen und daß man auch so Geld verdienen könne. Da ich zum Betteln zu stolz war, wurde aus mir sehr schnell ein Gelegenheitsstrichjunge. Nach wenigen Malen hat mich diese Art, Geld zu verdienen, derart angeekelt, daß ich heilfroh war, als ich von der Polizei aufgegriffen wurde.« Wegen verschiedener mehr oder weniger kleiner Delikte erhielt Gerhard Müller ein Jahr Jugendstrafe auf Bewährung.
Er zog nach Heidelberg, ernährte sich von Gelegenheitsarbeiten und kam in Kontakt mit der Studentenbewegung. Er begann Jack Kerouac, »On the Road«, zu lesen und zimmerte sich daraus so etwas wie eine Lebensphilosophie. Dann geriet er kurzzeitig in die
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