Der Baader-Meinhof-Komplex (German Edition)
am Hauptbahnhof, Ulrike Meinhof als Gast erkannt zu haben. In Wirklichkeit handelte es sich um eine nervenkranke Frau aus Bonn. Als sie hörte, daß man sie als Bandenchefin verdächtigte, wollte sie flüchten. Doch die Polizei kam ihr zuvor und nahm sie fest. Die Frau bestritt energisch, Ulrike Meinhof zu sein. In Handschellen wurde sie abgeführt, und erst zwei Stunden später, nachdem man ihr Fingerabdrücke abgenommen hatte, klärte sich der Irrtum auf.
Ruhlands Aussagen über die gutbürgerlichen Quartiergeber der Gruppe lieferten der Boulevardpresse Tag für Tag Schlagzeilen.
»Bild«: »Baader-Bande erpreßt Prominente«.
»Die Welt«: »Gesinnungsfreunde erschweren Fahndung nach Baader-Gruppe«.
»Hamburger Abendblatt«: »Prominente schützen die Baader-Bande«.
»Bild«: »Pfarrer versteckte Beutegeld der Baader-Bande«.
Die Fahndung nach Terroristen wurde zum beherrschenden innenpolitischen Thema. Die »Welt am Sonntag« brachte es auf die Formel: »Bonner Geheimpolizei jagt Staatsfeind Nr. 1 : Die Baader-Bande«.
Journalisten, Politiker, Sicherheitsbeamte, Psychologen und Philosophen machten sich an die Arbeit, das Phänomen zu analysieren.
Günter Nollau, damals im Bundesinnenministerium und später Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz, sah »etwas Irrationales an der ganzen Sache«. Ihm fiel auf, »daß so viele Mädchen dabei sind«, und er hatte auch gleich eine Erklärung parat: »Vielleicht ist das ein Exzeß der Befreiung der Frau.«
Der Frankfurter Philosoph Alfred Schmidt kam zu der Einsicht: »Das ist ein historisches Überbleibsel der abschlaffenden Protestbewegung. Die stehen nun da mit ihrer Revolution, und die anderen gehen zur Tagesordnung über. Das ist so, als wenn beim Fußball ein Tor fällt, und 20 000 Menschen schreien ›Tor‹, und dann ist da einer, der schreit zwei Minuten länger als die anderen. Dann drehen sich alle um und denken: ›Was ist denn das für einer.‹«
Der Soziologe Oskar Negt hielt die Aktionen der Baader-Meinhof-Gruppe für eine »gefährliche Narretei«, entstanden aus der »falschen Faschismus-Analyse«, die sie ihrer Gesellschaftskritik zugrunde gelegt habe. Und Professor Max Horkheimer urteilte: »So dumm kann keiner sein, um nicht zu spüren, daß sie genau das Gegenteil von dem erreichen, was sie eigentlich wollen.«
21. Namensgebung – die »Rote Armee Fraktion«
In der Öffentlichkeit hieß die herumreisende Truppe immer noch »Baader-Meinhof-Gruppe« oder »Baader-Meinhof-Bande« – je nach politischem Standpunkt des Beobachters. Seit der Baader-Befreiung, seit dem Interview mit Michèle Ray, hatte sich die Gruppe nicht mehr schriftlich und theoretisch geäußert.
Anfang 1971 verfaßte Horst Mahler in seiner Gefängniszelle ein »Positionspapier«, in dem er die Ziele der Stadtguerilla zu definieren suchte. Die Schrift wurde unter der Tarnbezeichnung »Neue Straßenverkehrsordnung« veröffentlicht und später im Berliner Verlag Klaus Wagenbach nachgedruckt. Mahler hatte sein Papier nicht mit den in Freiheit operierenden Genossen abgestimmt. Als Baader, Ensslin und Meinhof das von Mahler entwickelte Konzept für ihren Kampf in die Hände bekamen, waren sie empört: »Das hat mit uns überhaupt nichts zu tun. Das ist ein Konzept von Guerilla, aufgeblasen wie Indianerspielen.«
Wo immer sie mit Helfern und Sympathisanten zusammentrafen, distanzierten sie sich von Mahlers strategischen Überlegungen. Ulrike Meinhof bekam den Auftrag, zur korrekten Selbstdarstellung der Gruppe ein eigenes Manifest zu entwickeln, das »Konzept Stadtguerilla«. Darin tauchte zum ersten Mal der Begriff »Rote Armee Fraktion« auf. Die Titelseite zierte eine Maschinenpistole, darauf die Abkürzung » RAF «. Name und Signet setzten sich bald als Markenzeichen durch.
Doch es war nicht die Kalaschnikow, die russische Maschinenpistole, Waffe aller Befreiungsbewegungen dieser Welt, die das Signet der RAF zierte, es war eine deutsche Heckler & Koch. Die Revolutionäre hatten sich vertan.
Über den Namen RAF war mehr oder weniger gemeinsam entschieden worden. Erst im nachhinein kamen einigen der selbsternannten Rotarmisten Zweifel. RAF , das hieß auch Royal Airforce, britische Königliche Luftwaffe, die im Zweiten Weltkrieg ihre Bombenteppiche über deutschen Städten abgeladen hatte. Auch die Bezeichnung »Rote Armee« weckte bei den meisten Bundesbürgern nicht gerade freundliche Assoziationen.
Einer aus der Kerntruppe der RAF
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