Der Babylon Code
vorchristlichen Jahrtausend verwendet wurde. In der zweiten Stufe war das Bild an sich unverändert, allerdings um neunzig Grad nach links gedreht, sodass die Spitze des Dreiecks
nach rechts zeigte. Mit der Zeit verfremdete sich das ursprüngliche Zeichen immer weiter.«
»Warum?«
Forster zeigte wieder zum Regal, und Chris holte den dort liegenden Block und Stift. Der Kunsthändler nahm beides zur Hand und kritzelte verschiedene Zeichen auf den Block. Er fluchte dabei, weil seine zittrige Hand ihm nicht gehorchte. Erst nach dem dritten Versuch legte er den Stift zur Seite und zeigte Chris das Blatt. Die Einzelteile der Zeichen glichen immer mehr Pfeilen mit ausgeprägten Dreiecken am Pfeilende.
»Im Grunde standen die ersten Zeichen gerade. Vermutlich wurden sie um neunzig Grad nach links gedreht, um sie schneller und besser in den Ton drücken zu können. Es blieben aber weiterhin Rundungen, die sich im Lauf der Zeit verloren, weil auch sie nur sehr schwer präzise genug in den Ton zu drücken waren. Die Zeichen veränderten sich unter rein praktischen Gesichtspunkten.«
»Und damit ist eindeutig erkennbar, dass…«
»So ist es. Aber die Tafel an sich gibt auch schon Auskunft. Lehm. Getrocknet. Mit einem hohen Sandanteil. Deshalb ist die Oberfläche auch so porös.«
Zarrenthin starrte nachdenklich auf das Artefakt. »Wie muss ich das verstehen?«
»Lehm ist ein Verwitterungsprodukt aus den Gesteinsschichten und kommt in ganz unterschiedlichen Mischungen aus Ton, Sand, Kies und Mineralkörnern aus Gesteins-oder Bodenmaterial vor. Dabei wirkt nur der Ton als Bindemittel, der alles zusammenhält. Hohe Kalk-und Gipsanteile beeinflussen die Konservierungseigenschaften des Lehms und machen ihn gegen Wasser resistenter. Der im Zweistromland damals genutzte Lehm weist als Tonmineral hohe Anteile von Palygorskit auf, der nur schwach bindig ist, aber dafür ist der Lehm insgesamt beständiger gegen Verwitterung.«
Chris starrte in die Vitrine mit den Tontafeln.
»Okay. Wenn ich richtig zähle, sind hier sechs Tafeln dieser Art.«
»Ja. Sechs aus der Zeit Nebukadnezars II. und sechs aus dem dritten Jahrtausend vor Christus. Absolute Kostbarkeiten. Einmalig. Kein Museum der Welt besitzt Vergleichbares.«
Forster lebte sichtlich auf. Seine Augen blitzten, und die Greisenhände strichen mit einer Zärtlichkeit über die Tafeln, ertasteten die Rillen der Schriftzeichen, als erforsche ein Liebender das erste Mal die Rundungen seiner neuen Geliebten. Er hielt die Tafeln dicht vor seine Augen, musterte mit der Lupe einzelne Schriftzeichen, ächzte vor Freude.
Chris fühlte sich vergessen. »Sie können Sie lesen?«, fragte er schließlich.
»Nicht wirklich. Es sind zu viele Zeichen. Aber die Inschrift wurde schon vor langer Zeit übersetzt. Es ist eine eigene Wissenschaft, diese Schrift zu entziffern. Immerhin wuchs die Anzahl der verwendeten Bilder, Zeichen und Symbole auf etwa zweitausend…«
»Wer soll sich das merken?«, entfuhr es Zarrenthin.
». . . und wurde deshalb später auf etwa sechshundert reduziert. Der normale Schreiber zu jener Zeit beherrschte in der Regel etwa zweihundert unterschiedliche Keilschriftzeichen.«
»Immer noch genug«, brummte Zarrenthin und dachte an das Alphabet mit seinen sechsundzwanzig Buchstaben, mit dem man heute auskam.
»Eben. Und man muss auch noch wissen, dass gleiche Zeichen unterschiedliche Bedeutungen haben können, je nachdem, in welchem Zusammenhang sie gebraucht werden. Die Sonne bedeutete zugleich Tag, hell, freundlich. Und ein Mund und Wasser zusammen ergaben das Wort ›trinken‹.«
»Woher kommen sie? Sind sie so kostbar, weil sie aus einem Grab stammen? Aus einem Königsgrab?«
»Diese sind aus einem ganz besonderen Schrein«, sagte der Kunsthändler nach einigem Zögern. »Mesopotamien ist nicht Ägypten. Anders als in Ägypten mit den vielen Pharaonengräbern hat man in Mesopotamien kaum Königsgräber gefunden. Diejenigen, die man fand, waren allerdings auch prachtvoll ausgestattet. In den Königsgräbern von Ur hat man ganze Kolonnen von Streitwagen, Diener der Könige, die mit ihren Herren starben, Schmuck, Gold und natürlich auch Tafeln gefunden. In der Hinsicht hat sich bis heute nichts geändert.«
»Was meinen Sie?«
»Wenn schon die Hülle sterblich ist, dann sollten wenigstens die Taten der Herrscher unsterblich sein. Die Schrift wurde zwar zuerst für die Aufzeichnung wirtschaftlicher Fakten entwickelt, aber die Tempeldiener und die Könige
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