Der Babylon Code
mächtig, nicht hektisch, sondern ruhig und entschlossen. Wie immer.
Der Hirte sah nach oben. Eben noch ein Punkt am Himmel, plötzlich mächtig groß. Die Krallen ausgefahren an kräftigen Beinen. Übergroß sah er den Schnabel und die gierigen Augen des todbringenden Jägers.
Die Hunde bellten, und der Hirte lief zwischen seiner Herde umher.
Mit der Schaufel seines Krummstabes schleuderte er genau in dem Moment, als der Adler niederging, einen Stein, dann noch einen und wieder einen.
Der Adler brach seinen Anflug mit pfeifendem Gekreisch ab und verschwand in einer eleganten Kurve am Himmel.
Der Hirte stützte sich wieder auf seinen Stab und starrte liebevoll auf seine deutlich vergrößerte Herde.
Lange geschah nichts. Dann bewegte sich der Hirte wieder. Eine weitere Herde näherte sich zwischen sandigen Hügeln. Einzeln oder in kleinen Gruppen zogen die Tiere unweit des Waldsaumes dahin.
Der Hirte beobachtete sie. Keine Hunde, kein Hirte. Eine leichte Beute für den Adler. Der Hirte pfiff nach seinen Hunden. Sie hetzten los und trieben auch diese Tiere zu seiner Herde.
Papst Benedikt schreckte auf. Für einen Moment war er orientierungslos. Dann begriff er. Ein neuer Tag war angebrochen, und er hatte in der kleinen Kapelle, die zu seinen Privatgemächern gehörte, beten wollen.
Er saß auf dem Stuhl mit der eisernen Rückenlehne, der in der Mitte des Raumes stand. Plötzlich überkam ihn eine tiefe Unruhe. Es war das erste Mal, dass die Träume so kurz hintereinander aufgetreten waren.
Er stand auf und ging zum Altar, wo die kleine, mit Blattgold verzierte Schatulle immer noch unversehrt unter dem einfachen Holzkreuz stand. Er öffnete sie und nahm das Kreuz in die Hand. Es war ein kleines Kreuz aus einfachem, aber uraltem Holz, angeblich in Montecassino zu der Zeit geschnitzt, als der heilige Benedikt noch lebte.
Er legte das Kreuz auf den Altar. Dann hob er den Zwischenboden der Schatulle an und nahm das mit Samt ausgeschlagene Einlegefach darunter heraus.
Darin lagen eine kleine Tontafel mit eingedrückten Schriftzeichen und mehrere Blatt vergilbten Papiers.
Er nahm das letzte Blatt und las.
Es war eindeutig.
Die Zeit war nah.
Wenn nur endlich…
Monsignor Tizzani wartete im Gang vor den Büroräumen des Papstes und starrte nachdenklich aus dem Fenster. Das gleißende Licht der fast im Zenit stehenden Sonne schmerzte ihn in den Augen. Er drehte sich ab und überlegte wieder, wie er das Scheitern am elegantesten in Worte kleiden und dem Heiligen Vater seine absolute Loyalität versichern konnte.
Das Treffen mit Marvin, diesem amerikanischen Verleger, hatte er zur Zufriedenheit des Papstes gemeistert, aber in wenigen Minuten würde er womöglich in der Gunst des Heiligen Vaters abstürzen wie beim freien Fall von einer Steilwand im Hochgebirge.
Tizzani sah schon die hämischen Gesichter seiner Priesterkollegen, die ihm den Erfolg neideten, vom Heiligen Vater und Kardinal Sacchi mit Sonderaufträgen betraut zu werden. Immer wieder fragten sie nach Einzelheiten, um sich damit im täglichen Tratsch des Vatikans interessant zu machen. Aber er schwieg beharrlich. Würde er nun vor die Tür gesetzt, würden sie Kübel von Häme über ihn ergießen, ihn zum Gespött im Vatikan machen.
Begonnen hatte alles am Freitagabend nach dem Gespräch beim Papst, als Kardinal Sacchi ihn in sein Büro bat und die Unterredung mit dem Papst noch einmal zur Sprache brachte.
»Der Heilige Vater trauert immer noch Ihrem Vorgänger
nach. Er hat dessen Fähigkeiten über alles geschätzt und nicht verwunden, dass er sich vor sechs Monaten ins Kloster zurückgezogen hat. Ich vertraue Ihnen, aber Sie müssen die letzten Zweifel beim Heiligen Vater beseitigen. Und dafür ist das, worum ich Sie jetzt bitten werde, gerade richtig«, sagte der Kardinal und machte dann eine kleine Pause. »Sind Sie bereit?«
Tizzani nickte. Er würde den anderen keinen Anlass zur Häme geben.
»Der Heilige Vater erwartet wichtige Informationen, die heute Morgen in Grosseto am Museo Archeologico übergeben werden sollten. Wichtige Informationen zu Fragen des Glaubens, wenn Sie verstehen… Dazu ist es nicht gekommen, und der Heilige Vater ist schier verzweifelt. Können Sie sich vorstellen, dass er geschrien hat, als der Chef der
Corpo di Vigilanza
die Nachricht brachte?« Kardinal Sacchi schüttelte voller Unglauben den Kopf. »Ich war zufällig dabei und soll mich nun auch noch darum kümmern… Ich bitte Sie: Sie müssen das für mich
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