Der Babylon Code
des Widerstandes, des Unglaubens, des Aufbegehrens gegen diese nüchterne Analyse. Nichts… es klang plausibel.
»Sie behaupten also, die Zehn Gebote seien Moses nicht direkt von Gott in der überlieferten Form auf dem Sinai eingegeben worden, wie es die Bibel beschreibt.«
»Die wissenschaftlichen Exegeten sagen: Ja, so ist das.«
Chris sah in die nussbraunen Augen der Professorin.
»Sie sind auch Wissenschaftlerin. Glauben Sie? Können Sie dann noch glauben?«
Sie lachte verlegen.
»Die Frage ist falsch gestellt. Wäre ich so etwas wie ein Fundamentalist, der die Texte der Bibel als papiernen Fetisch betrachtet, als absolutes Werk, das buchstabengetreu wahr und als nicht ableitbar anzusehen ist, dann allerdings hätte ich ein Problem. Entweder nehme ich die Bibel wortwörtlich, glaube und lehne alles andere ab, gerade auch wissenschaftliche Erkenntnisse. Oder aber ich akzeptiere die Bibel als Geschichtswerk einer damals im Entstehen befindlichen Gesellschaft, als Findung, die Vergangenheit erklärende und für eine bessere Zukunft ausgerichtete Anleitung, als historisches Buch – dann ist sie offen für viele, auch konkurrierende Bedeutungen.«
»Was hat das alles mit den Tontafeln zu tun?«
Die Professorin starrte anstelle einer Antwort einem der vorbeigehenden Besucher hinterher, der sie unverhohlen gemustert hatte.
»Kennen Sie den?«, fragte Chris.
»Ich? Nein.« Sie lachte amüsiert auf. »Ich starre Typen, die mich angaffen, immer offen an. Das verschreckt meistens mehr als Worte.«
»Wenn das alles stimmt, was Sie sagen: Wo ist die Verbindung?«
»Die sechs jüngeren Tafeln stammen von Nebukadnezar II. Daran ist in dieser Hinsicht nichts Besonderes. Er beschreibt seinen Feldzug und Sieg über Kišh.« Sie machte eine kleine Pause, als wolle sie nun seine ungeteilte Aufmerksamkeit. »Die älteren Tafeln, die auf diesem Feldzug von Nebukadnezar erbeutet und in dem Tempel des Ninurta in Babylon aufbewahrt wurden, enthalten das Sensationelle. Der König beschreibt, wie das Königtum nach der Sintflut in Kišh auf die Erde kam und welche
Gebote er dabei erhalten hat. ›
Enlil und Zababa nicht verehren und lästern, fremden Göttern opfern, morden, stehlen, ehebrechen und Lüge schwören, das alles sind Sünden, denen mein Volk entsagen muss. Dies sagte Ninurta, der göttliche Bote und Gott von Kišh.
‹ Verstehen Sie?«
»Sie meinen, es ist fast identisch mit den Prophetien, die die Grundlage der Zehn Gebote ausmachen sollen – wenn es denn stimmt, was Sie über deren Entstehung gesagt haben.«
»Genau. Es wird immer deutlicher, dass die althebräische Literatur, also auch die Bibel und das Alte Testament, als Teil der altorientalischen Kultur-und Religionsgeschichte gelesen werden wollen.«
Langsam dämmerte Chris, was die Wissenschaftlerin ihm da eröffnete. Für ihn selbst mochte es unbedeutend sein, aber er konnte sich sehr gut vorstellen, dass diese Erkenntnisse überzeugten Bibelanhängern überhaupt nicht schmeckten.
»Vergleichstexte aus Mesopotamien und Ägypten, aus dem Hethiterreich und Ugarit, viele seit langem bekannt, werden wissenschaftlich immer besser erschlossen. Anschauungen und Motive des Alten Testaments, gesellschaftliche Voraussetzungen, sogar Gottesanschauungen Alt-Israels sind heute nicht mehr ohne Analogie. Und hier lesen sie, noch dazu auf den ältesten Tafeln, die jemals gefunden wurden, ihre Bestätigung. Der Fund ist sozusagen ein Sieg der Wissenschaft über den Glauben.«
Kapitel 22
Berlin
Freitag
In diesem Augenblick trat das Pärchen in der Motorradkluft durch den Eingang.
Sie sind immer noch hinter uns und achten nicht auf die Rochen, dachte Chris, als die beiden weiter vorn verschwanden. Sie achten nicht auf die Rochen, wo doch alle hier stehen bleiben. Eine der Hauptattraktionen war ihnen keine Sekunde Aufmerksamkeit wert.
Doch kein Zufall?
Lief er in eine Falle? War die Professorin wirklich die, für die sie sich ausgab?
Sie konnten zurück zum Eingang laufen, dort das
Sealife
verlassen. Falls sie verfolgt wurden, wussten die anderen, dass er sie entdeckt hatte. Niemand ging hier am Eingang wieder raus. Womöglich gab es eine Absicherung hinter ihm. So hätte er es jedenfalls gemacht.
Er entschied sich, weiter zu gehen. Um herauszufinden, ob ihnen tatsächlich jemand folgte, musste er das Spiel mitspielen.
»Kommen Sie!«
»Na endlich.« Ramona Söllner löste den Blick von den Rochen.
Chris schlenderte weiter durch die halbdunklen Räume und
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