Der Babylon Code
Scheiben, Väter erklärten, dass Forellen nur in fließenden Gewässern leben konnten, und ein Mann um die sechzig wünschte sich einen der großen Karpfen zu Weihnachten in der Pfanne.
Chris hielt inne. Rochen in unterschiedlichen Größen schwebten zu ihren Füßen mit sparsamen Bewegungen im Wasser eines Beckens und glitten auf ihrem Rundkurs in regelmäßigen Abständen immer wieder an ihnen vorbei.
Er lehnte sich gegen die nachempfundene Felswand unmittelbar neben dem Beckenrand und wartete. Jeder, der seinen Rundgang nach ihnen angetreten hatte, musste an ihnen vorbeikommen.
Eine Weile später hatte Chris noch immer nichts Auffälliges bemerkt, aber er wollte dennoch ein paar Minuten länger warten.
»Sie sagten vorhin, der Text enthalte einen Teil der Zehn Gebote in ihrer Grundform und das mache ihn so brisant für die Religion und so interessant für die Wissenschaft. Was genau meinen Sie damit?«
»Sie fragen aber spät nach. Eigentlich hätte ich erwartet, dass Sie gleich mehr wissen wollen.«
»Brandau schien vollkommen verärgert – ich wollte ihn nicht weiter provozieren. Mir war wichtiger, dass wir zu einer Einigung kommen. Jetzt können Sie es mir aber sagen.«
Ramona Söllner blickte auf einen heranschwimmenden Rochen. »Was wissen Sie über die Zehn Gebote oder die Bibel – oder besser gesagt, über die Entstehung des Alten Testaments?«
Chris überlegte. »Gottes Wort ist darin niedergelegt – irgendwann von irgendjemand aufgeschrieben. Sagt die Kirche.«
Er erinnerte sich dunkel an Fragen und Widersprüche, die von seinem Pastor einfach weggebügelt worden waren. »Später ist das alles versickert, hatte keine Bedeutung mehr. Das ist so lange her.«
»Ihnen ist bewusst, dass der Dekalog, die Zehn Gebote also, der Inbegriff des alttestamentarischen Gesetzes sind?«
»Wenn Sie es sagen…«
»Betrachtet man den Text der Zehn Gebote als Wissenschaftler und analysiert ihn aus verschiedenen Blickwinkeln, so muss man feststellen: Im Ursprung gab es nicht Gottes Wort, sondern prophetische Mahnreden, die dann zum unumstößlichen Gottesgesetz geformt wurden.«
»Was meinen Sie damit?«
»Die Gebotsreihe des Dekalogs wechselt zwischen Geboten und Verboten, zwischen Gottesrede und Rede über Jahwe. Sie enthält kurze und lange, begründete und unbegründete Vorschriften. Die unterschiedliche Balance zeigt, dass zwischen Kern und späteren Erweiterungen unterschieden werden muss.«
»Sie wollen sagen, es gibt keinen einheitlichen, festgelegten, ursprünglichen Text? Eher eine zusammengefügte Mauer aus Steinen als einen Monolithen?«
»Genau. So legen es jedenfalls die wissenschaftlichen Exegeten aus, die die Texte der Bibel analysieren. Das ist nicht mein Fachgebiet, aber ich versuche es einmal zusammenzufassen. Sie
sagen, es gebe eine Grundreihe von Geboten, die etwa aus dem Lasterkatalog der Tempelrede des Propheten Jeremias stammen könnte. Da heißt es: ›Stehlen, morden und ehebrechen und Lüge schwören und dem Baal räuchern und anderen Göttern nachlaufen, die ihr nicht kennt.‹ Eben das findet sich dann wieder als Normenkatalog in den Zehn Geboten. Die prophetische Verkündung des Gotteswillens hat sich zu einer Gebotsreihe verdichtet. Die Herkunft aus der Polemik ist noch erkennbar, meinen die Wissenschaftler.«
»Sie sagen damit, dass die Zehn Gebote prophetischen Ursprüngen entstammen.«
»Genau. Diese Grundreihe soll später ergänzt worden sein. Die weiteren Gebote entstammen nicht mehr der Prophetie, sondern sind aus der Fülle der anderen Gesetze und dem kultischen Bereich übernommen worden. ›Ich bin Jahwe‹ stammt aus dem Kult. Damit wird die Gebotsreihe als Offenbarung ausgewiesen. Den Anspruch weist Jahwe durch seine grundsätzliche Heilstat aus – Israels Herausführung aus Ägypten. Daraus leitet er seinen Anspruch ab: ›Du sollst keine anderen Götter haben neben mir.‹ Dies ist im Dekalog an den Anfang gerückt. Es ist das Erste Gebot.«
»Interessant, aber kompliziert«, knurrte Chris.
»Die ethischen Vorschriften sind als Folgerungen anzusehen. Dabei fügen drei Gebote insbesondere dem Ersten Gebot wichtige Züge hinzu: das Verbot, den Gottesnamen bei Eidesleistungen zu missbrauchen, das Verbot des Götzenbildes und das Gebot der Sabbatruhe. Alle drei haben den jüdischen und christlichen Glauben geprägt. Der Gehorsam gegen das Erste Gebot gewann im Gehorsam gegen diese drei Gebote seine Gestalt.«
Chris suchte eine innere Reaktion, einen Moment
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