Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Bär

Der Bär

Titel: Der Bär Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jacques Berndorf
Vom Netzwerk:
verstand, der jedes Wort kleinschrieb, weil er sich dann nicht die Mühe machen musste, herauszufinden, was großgeschrieben wird, dieser Mann schrieb wunderbare, höchst präzise Briefe. Wahrscheinlich gehörte er zu den Namenlosen, die Amerika groß gemacht haben. Hatte er Maria Hansen je gefragt, ob ihre Liebesgeschichte mit KarlHeinrich Wesendonker ernst war und tief oder nur ein Strohfeuer, diktiert von der Hitze ihrer Körper, ihrer Einsamkeiten und stillen Verzweiflungen? Ich wusste plötzlich, er hatte sie gefragt, aber die Antwort würde niemand wissen.
    Dann schellte es, und Esther schrie: »Da ist wer für dich, Siggi.«
    In der Tür stand ein etwa dreißigjähriger Mann mit langen wirren Haaren. Er trug eine uralte Jeans, darüber ein fadenscheiniges T-Shirt, das wahrscheinlich um Luthers Geburt herum gewebt worden war. Er hatte uralte dunkelbraune Augen, und als er sprach, sah ich, dass er keinen Zahn mehr im Mund hatte.
    Er sagte: »Also, mir geht es ziemlich schlecht. Ich bin Schamane.« Dann setzte er hinzu: »Ich ziehe durch die Eifel.«
    »Wie schön für die Eifel«, sagte ich. Ich wusste nichts Klügeres zu antworten, ich wusste nicht, ob ich mit ihm reden wollte oder nicht. Wahrscheinlich würde er um ein Markstück betteln, wahrscheinlich würde ich ihm fünf geben, und er würde sie sofort benutzen, um Alkohol zu kaufen. »Was für eine Sorte Schamane bist du denn?«
    »Vom Stamme der ausgestoßenen weißen Siedler jenseits des Flusses. Ich bete zu den Seelen der Verstorbenen, ich führe sie zusammen, damit sie nicht allein sind.«
    »Und wie bitte machst du das?« Emma tauchte hinter ihm auf und lächelte.
    »Na ja, in Trance«, sagte er. Dann machte er eine Pause. »Aber eigentlich habe ich nur Hunger.«
    »Er kriegt einen Kaffee und ein großes Brot«, sagte Emma. »Lass nur, ich mach das schon.« Dann wandte sie sich an den Schamanen. »Vorbestraft?«
    »Ein bisschen«, nickte er. »Was so passiert im wirklichen Leben. Ladendiebstahl, Zechprellerei, Betrug, Randaliererei. Nicht wirklich wichtige Sachen. Ich bin ehrlich.«
    »Wie schön«, strahlte Emma.
    »Komm rein, du Schamane«, sagte ich. »Und wenn du eine falsche Bewegung machst, legen wir dich um und verscharren dich hinter der Friedhofsmauer.«
    »So liebe ich das Leben«, sagte er ganz ernst. Er ging in die Küche und setzte sich. »Ich kann euch nichts geben als meine Gefühle«, erklärte er. Er war ein richtiggehender schöner Irrer.
    »Wo hast du letzte Nacht geschlafen?«, fragte ich.
    »Hillesheim«, sagte er. »In einer Scheune. Standen außerdem ein paar Rinder drin. War gut warm.«
    Emma hantierte an der Kaffeemaschine. »Du bist aus einem Programm rausgeflogen, nicht wahr?«
    »Ja. In Essen. Methadon-Programm. War nichts. Hat nicht sollen sein.«
    »Und was soll jetzt werden?«, fragte sie.
    »Es geht eben dem Ende zu«, sagte er schlicht. »Du weißt ja, wie das ist. Du hast Entzug, du stehst es durch. Und das frisst Energie. Und beim nächsten Mal, das weißt du genau, hast du keine Kraft mehr. Und du hebst ab.«
    Emma drehte sich herum. »Ja, das stimmt. Hast du noch irgendwelche Angehörigen?«
    »Nicht, dass ich wüsste. Interessiert auch keinen. Ich bin Schamane.«
    »Kannst du dunkle Dinge sehen?«
    »Manchmal, nicht immer.«
    »Wir schenken dir eine Geschichte«, sagte Emma nachdenklich. »Dafür lebst du noch eine Weile, wenn es dir recht ist.«
    »Ich habe aber kein Bett mehr«, wandte ich vorsichtig ein.
    »Das brauche ich auch nicht«, sagte er. »Du hast doch einen Garten, oder?«
    »Aber ich habe so ungern Leute in meinem Garten rumliegen. Da werden meine Karpfen nervös.«
    »Du hast doch den Dachboden!«, stellte Emma kühn fest.
    »Ach ja«, murmelte ich. »Ausgerechnet das Ding wollte ich selbst einweihen.«
    »Sei nicht kleinlich!«, mahnte sie. Dann wandte sie sich an den Schamanen. »Ich erzähle dir eine Geschichte von einem Zigeuner. Das ist lange her. Kannst du dich darauf konzentrieren?«
    »Ich kann es versuchen«, nickte er.
    »Eine Nacht, mehr nicht«, sagte ich und ging hinaus. Die Wege, die Emma ging, waren zuweilen sehr seltsam.
    Vater Schmitz, Tessa und Ingbert waren irgendwohin verschwunden, Rodenstock hockte am Teich auf einem Stein. Er sah mir entgegen und sagte: »Ich bereite das Gespräch mit diesem Landwirt Gustav Mehring in Büscheich vor, der angeblich Dokumente oder was auch immer besitzt. Die Schmitzens wollen herausfinden, ob dieser Mehring mit dem Arzt oder Richter oder

Weitere Kostenlose Bücher