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Der Bär

Der Bär

Titel: Der Bär Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jacques Berndorf
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Wie hatte Esther gesagt? Es ist eine Liebesgeschichte, und es herrschte das Chaos.
    Als ich in mein Schlafzimmer trat, lag dort Esther und hatte in der rechten Hand ein Wasserglas, halb gefüllt mit Kognak. Sie sagte mit abgewandtem Gesicht: »Ich kann zur Zeit schlecht allein sein.«
    »Das ist schon in Ordnung«, murmelte ich.
    »Kannst du mich mal in den Arm nehmen?«
    »Das kann ich.« Ich nahm sie in den Arm, worauf sie erstickt flüsterte: »Ich finde die Art, wie ich lebe, einfach zum Kotzen.« Irgendwann schlief sie ein, ich deckte sie zu und ging wieder.
    Emma, Rodenstock und der Schamane saßen im Wohnzimmer. Emma hatte ihm einen Kaffee und Brote gemacht, und er schlug halbverhungert zu und aß so hastig, dass er sich verschluckte, räusperte, Kaffee hinunterstürzte, dann wieder zubiss, als sei das die letzte Nahrung seines Lebens.
    »Langsam«, mahnte ich. »Nichts läuft dir weg.«
    »Das sagst du so leichtfertig«, murmelte er. »Weiß ich, ob nicht jemand um die Ecke kommt und mir das Brot vom Teller nimmt?«
    »Wo kommst du eigentlich her?«
    »Aus Köln, Südstadt. Aber da war ich schon ein Jahr nicht mehr. Hat keinen Zweck, die Stadt ist hart. Ich ziehe hier so durch die Eifel.«
    »Und? Wie geht das?«
    »Nicht besonders gut. Kumpel haben gesagt, die Pfalz ist besser, noch besser ist das Allgäu, die Bodenseeregion und so.«
    »Also nach Süden? Ist das dein Ziel?«
    »Nicht unbedingt. Manchmal denke ich, ich kann was arbeiten. Irgendwas, auf einem Bauernhof oder so. Aber dann kommt so eine Scheiß-Entzugsperiode und schmeißt mich zurück. Im Entzug kannst du nicht arbeiten und fliegst überall raus.« Er schmatzte ungeniert, er rülpste.
    »Wir sind aber ein Stück weitergekommen«, sagte Emma. »Er ist auf seine Weise wirklich gut.«
    »Ich bin eben ein Schamane«, lächelte er. »Du glaubst an mich, äh?«
    »Ich glaube nicht, dass du ein Schamane bist, mein Junge. Zuerst mal bist du ein Penner. Aber deine Autosuggestion ist stark. Nicht schlecht, wirklich.«
    »Was hat denn der Schamane herausgefunden?«, fragte Rodenstock. Er kannte seine Gefährtin, er wusste, was sie dachte.
    »Er hat ein Chaos entworfen«, berichtete Emma. »Ein richtiges, durchgehendes Chaos.«
    »Das hatte ich schon einmal«, sagte ich. »Und was ist Besonderes an dem Chaos? Und, Rodenstock, was sagt dein Kumpel von der Kassenärztlichen Vereinigung?«
    »Bingo!«, strahlte Rodenstock. »Es gibt Patientenaufzeichnungen des Medizinalrates Dr. Xaver Manstein aus dem Jahre 1888. Sie wissen nur noch nicht, ob wir reinschauen dürfen. Und sie sagen, das meiste besteht aus Abkürzungen. Wenn es klappt, können wir noch heute Abend reinsehen. Er ruft mich an. Und wie sieht das Chaos unseres Schamanen aus?«
    »Er soll es selbst erklären«, bestimmte Emma. »Nicht schlecht, wirklich nicht schlecht. Dafür hat er eine Nacht Schlaf verdient. Und jede Menge Kaffee und Brote.«
    Der Schamane stand auf und sagte erstickt: »Ich behalte nichts bei mir.« Dann rannte er hinaus, und wir hörten, wie er die Tür zum Badezimmer hinter sich zuknallte.
    »Der leidet richtig«, sagte Rodenstock bedächtig.
    Nach fünf Minuten kam er zurück, auf seiner Stirne stand Schweiß. Er setzte sich, schloss die Augen und legte die Hände auf die Oberschenkel. Das, was folgte, war das mit Abstand Erstaunlichste, was ich jemals von einem Menschen gehört habe. Er hatte den ganzen Fall, inklusive Daten und Namen, im Kopf. Er war nicht eine Sekunde lang unsicher.
    »Es war also der 24. August 1888. Es war ein Freitag. Das Wetter, soweit ihr das wisst, war schön, es war warm, und es gab gelegentlich Gewitter. Also war es so, wie es jetzt hier ist. Dieser Tutut ist ein Mann um die dreißig. Er ist mit einem Karren unterwegs, davor ein Esel, ein Maulesel, was weiß ich. Er hat einen Bären bei sich, einen Tanzbären. Wahrscheinlich brennt ein Feuer, wahrscheinlich hat er etwas gegessen, hat seinen Bären gefüttert. Das ist die Szene. Nun habe ich mich auf dieses Bild konzentriert, und ich denke nicht, dass da jemand ans Feuer tritt und den Tutut einfach erschlägt. Dieses Töten ist ja nicht der Anfang einer Entwicklung, sondern das Ende. Das muss einen großen Vorlauf gehabt haben. Die Frau hier hat mir gesagt, dass dieser Tutut beliebt war, dass er oft in dieser Gegend gewesen ist, dass er Messer und Scheren schliff, wahrscheinlich auch Töpfe und Pfannen reparierte, dass er wahrsagte. Sie hat auch gesagt, dass dieser Tutut Briefe zwischen Liebespaaren

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