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Der Bär

Der Bär

Titel: Der Bär Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jacques Berndorf
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Kindheitserinnerungen, die besagen, dass dieser Moses Bär am Sabbat, also samstags, zu Fuß nach Neuenahr in die Synagoge ging. Wenn irgendjemand vorbeikam, ob mit Pferd und Wagen oder mit dem Auto, und ihm anbot, mitzufahren, lehnte er das freundlich ab. Es war seine Art, sich auf den Gottesdienst vorzubereiten. In der Synagoge war er der Vorbeter, was darauf schließen lässt, dass er in der Gemeinde hoch angesehen war. Er ging zu Fuß, das gehörte bei ihm dazu. Und er stand in Dernau in der Tür seines Hauses und rauchte eine lange Pfeife, die bis zum Boden reichte. Ich vermute mal ein sehr langes Holzmundstück mit einem Porzellankopf. Dann ist das Foto von seiner Frau aufgetaucht. Das wäre es für heute. Wann können wir darüber reden?«
    »Ich weiß es nicht genau. In drei oder vier Tagen. Ich habe noch eine andere Geschichte zu erledigen. Wir telefonieren.«
    »Wir telefonieren«, sagte er und unterbrach die Verbindung.
    Rodenstock sah mich fragend an.
    »Eine verrückte Geschichte«, erklärte ich. »Zu Beginn des Jahres 1942 sterben in Dernau an der Ahr drei Juden innerhalb von drei oder vier Tagen in ihrem Haus. Wir versuchen herauszufinden, was da geschehen ist. Und irgendwie kommen wir mühsam Stückchen um Stückchen weiter.«
    »Das erinnert mich aber an Tutut«, sagte Rodenstock.
    »Das ist ähnlich«, nickte ich. »Und es ist beklemmend. Und eigentlich ist es unbedeutend, dass es Juden waren. Es waren Menschen, die nach Ansicht von anderen Menschen nicht weiterleben durften.«
    »Und was machst du damit?«, fragte Emma.
    »Ich weiß es noch nicht. Dieser Kollege, Dr. Winter, will vielleicht eine Reportage im Rundfunk machen, vielleicht ein Essay in der Süddeutschen. Wir müssen abwarten, was dabei herauskommt.«
    Dann kam eine ekelhafte Frage von Emma: »Hast du die Juden nicht langsam satt?«
    »Nein, habe ich nicht. Ich weiß, dass ich Jüngeren damit auf die Nerven gehe, aber wenn wir das vergessen, ist es schlecht um uns bestellt. Niemand kann mir erzählen, dass das jemals vorbei ist. Wir haben im Kosovo in diesem Jahr die gleiche, furchtbare Scheiße erlebt. Und schon wieder tun wir alle so, als ginge uns das nichts an, als geschehe das auf einem anderen Stern. Juden sind für mich ein Lebensscharnier, die wichtigste Stufe meines Bewusstseins. Ach, hören wir auf, lasst uns über etwas anderes sprechen.«
    »Reden wir über Trier«, sagte Rodenstock. »Ich würde gern ein Eis essen oder so was. Hinterher.«
    »Du bist ein verrücktes Huhn«, murmelte Emma liebevoll.
    »Wen meinst du denn?«, fragte Rodenstock. »Mich oder Baumeister?«
    »Beide. Ihr seid beide verrückte Hühner.«
    »Ich möchte aber das Geschlecht gewahrt wissen«, mahnte ich. »Ich bin ein verrückter Hahn.«
    Dr. Martin Helmholtz wohnte in einem Altbau links von der Porta Nigra, in jenem Straßengewirr, in dem die Zeit in den hohen Räumen höchst ehrbarer Bürgerhäuser stillzustehen scheint wie flirrender Staub. Er war ein kugelrunder, freundlicher alter Herr, der seine letzten silbernen Haare quer über den Schädel gelegt hatte, um den Rest von Fülle zu demonstrieren. Er trug über der beachtlichen Wampe ein uraltes T- Shirt mit der Aufschrift Fuck You und sagte aufgeräumt: »Es ist mir eine Ehre, eine Nebenrolle spielen zu dürfen. Kommt herein, Leute. Es gibt einen Wein aus Kues und dazu Brot mit Gänseschmalz. Und es gibt sogar saubere Gläser. Rodenstock, du Kumpel aus alten Tagen. Gut, dich zu sehen. Und ein Fraumensch hast du mitgebracht. Endlich der Hauch von Freundlichkeit in diesem Gemäuer.« Er wedelte ununterbrochen mit beiden Händen.
    Rodenstock murmelte: »Danke für deine Bereitschaft. Und wo ...?«
    »Sie ist gestorben. Vor Jahr und Tag. Ich lebe jetzt allein und besuche sie zuweilen auf dem Friedhof. Aber ehrlich gestanden sagen mir Grabsteine nichts. Ich erinnere mich an andere Dinge. Zum Beispiel, dass sie dauernd unter Blähungen litt und wir beide darüber lachen mussten. Sie hatte Krebs.«
    Er ging vor uns her in einen hohen Raum, der ein Mittelding zwischen Wohnzimmer und Küche war. »Ich lebe hier in diesem Raum. Dann noch im Schlafzimmer. Die anderen Räume benutze ich gar nicht mehr. Sie erinnern mich nur an die Kinder. Tagsüber arbeite ich das ärztliche Archiv dieser Region auf. So habe ich etwas zu tun, was Sinn macht. Setzt euch, Kinder, und langt zu.« Er zog einen Stuhl zurück und lächelte Emma an.
    »Emma ist meine Frau«, sagte Rodenstock. »Und das ist Siggi Baumeister,

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