Der Bär
unser Freund. Du hast etwas vom Dr. Xaver Manstein aus Gerolstein gefunden?«
»Habe ich. Das war gar nicht schwer. Es gibt übrigens von nahezu jedem Arzt Aufzeichnungen. Und du hast gesagt, es geht um Mord und Totschlag?«
»Richtig. Es geht präzise um Freitag, den 24. August 1888. Aber erst mal einen Schluck Wein und ein Stück Brot.«
Sehr wohltuend floss das Leben jetzt träge und gemächlich dahin, die Hektik war plötzlich verschwunden. Es schien so, als habe Tutut plötzlich Zeit, als warte er geduldig, als dränge gar nichts mehr.
Helmholtz goss Weißwein aus einer Flasche ohne Etikett ein, was in dieser Region immer darauf hindeutet, dass der Wein entweder herzlich schlecht oder ganz fantastisch ist. Dem Gesichtsausdruck Rodenstocks nach zu schließen, war er hervorragend. Emma seufzte leicht mit geschlossenen Augen. Ich bekam eine Flasche Wasser und genoss das Gänseschmalz.
Helmholtz war ein Mann, der anscheinend gegen Einsamkeit kämpfte, wie ältere Menschen das tun. Er wollte nicht sofort Auskunft geben, er wollte erst einmal reden, wollte Auskunft geben über sich und wollte Auskunft von Rodenstock über dessen Leben.
»Wie geht es seit der Pensionierung?«, fragte er.
»Na ja, eigentlich hervorragend«, murmelte Rodenstock. »Kommen Deine Kinder oft zu Besuch?«
»Der Sohn ja, die Tochter überhaupt nicht. Ich weiß nicht, warum das so ist, aber es ist so.«
»Meine Tochter kommt auch nicht mehr«, sagte Rodenstock bekümmert.
Eine Weile ging das so weiter, bis Emma keine Geduld mehr zeigte und sanft einwarf: »Also, ihr zwei alten Kämpen, wie wäre es mit Tutut?«
»Wer ist Tutut?«, fragte Helmholtz.
Rodenstock und Emma erklärten es ihm, und er spitzte den Mund. »Das ist ja eine verrückte Geschichte. Ihr sucht also irgendetwas, was zum Freitag, dem 24. August 1888, Auskunft gibt?«
»Genau das«, nickte Emma. »An diesem Tag wurde Tutut erschlagen.«
»Und was vermutet ihr?«
»Der Täter war aller Wahrscheinlichkeit nach ein höchst ehrbarer Bürger«, sagte Rodenstock vorsichtig. »Ein Steuereintreiber namens Karl-Heinrich Wesendonker verliebte sich nach unserem bisherigen Wissen in eine Bäuerin namens Maria Hansen. Er wollte wohl mit ihr nach Amerika verschwinden. Sie ist jedoch allein in der Gegend von Chicago angekommen. Das heißt, dieser Wesendonker folgte ihr nicht, ist ihr auch später nicht gefolgt, weil aus einem anderen Brief hervorgeht, dass sie sich mit einem Bauern namens Berthold Schmitz verband und mit dem erst nach Süden und dann nach Westen nach Kalifornien ging. Jetzt kommt eine zweite Geschichte hinzu: Dieser Wesendonker hatte eine Ehefrau, die als Drache bezeichnet wurde. Was auf deutsch heißt: Die Wesendonkers machten sich das Leben zur Hölle. Ich vermute einmal, sie waren, was damals durchaus die Regel war, von ihren jeweiligen Eltern miteinander verkuppelt worden. Das führte zu oft grotesken Ehen, die von Beginn an nicht funktionierten, gar nicht funktionieren konnten. In diese Ehefrau verliebte sich der Richter aus Gerolstein. Der Richter hieß Severus Brandscheid und stammte hier aus Trier. Es war also eine Vierecksgeschichte, und sie wurde auf eine damals ungewöhnliche Weise gelöst. Wir vermuten, dass die Sache von einem Stammtisch nobler Herren aus Gerolstein verfolgt wurde. Das heißt: Das ganze obere Dutzend der Stadt war eingeweiht und wollte eine möglichst skandalfreie Lösung. Das gelang nicht, weil jemand hinging und den Boten erschlug. Tutut.
Was hinterher aus Karl-Heinrich Wesendonker wurde, wissen wir ebenso wenig, wie was aus seiner Ehefrau und dem Richter wurde. Vielleicht lebten sie glücklich bis an ihr Lebensende. Aber einer von ihnen erschlug wahrscheinlich Tutut.«
»Gucken wir mal«, sagte Helmholtz sachlich und ging hinaus.
Als er wiederkehrte, hatte er einen offenen Karton in der Hand, in dem schwarze Bücher lagen. Es waren Din-A4 große, schwarz in Leinen gebundene Bücher, die im Grunde nichts anderes waren als alte Kassabücher, wie Geschäftsleute um die Jahrhundertwende sie in Gebrauch hatten.
»Manchmal fehlt eine ganze Sequenz von Tagen«, erklärte Helmholtz, »manchmal fehlen die Wochenenden. Dann ist entweder die Praxis nicht gelaufen oder der Arzt war im Urlaub oder es war einfach nichts los. Natürlich trug kein Arzt sämtliche Details seiner Patienten ein, aber manchmal kam es auch zu persönlichen Bemerkungen.« Er grinste. »Das richtet sich einfach danach, was der Doktor für erwähnenswert hielt und
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