Der Bär
immer noch große Schwierigkeiten hast, Deine geliebte Seele frei zu machen für einen neuen Anfang. Zu tief in Dir ist die eheliche Treue verankert, ganz so, wie Mutter Kirche es von ihren Kindern fordert. Aber glaube mir, Dein Leben wäre immer bitterer geworden an der Seite eines Mannes, dem Du gewissermaßen als Magd von Deinen Eltern anvertraut wurdest und den Du nicht lieben konntest.
Ich denke, dass wir Menschen innerhalb der Schranken unserer Gesellschaft nur mühsam leben können und gar oft gezwungen sind, unsere wahren Gefühle zu verbergen und sie vor allem nicht leben zu können. Ich frage mich, wie viele Menschen denn in genau der gleichen Not stecken und niemals die Möglichkeit haben, ein anderes Leben zu beginnen. Wir haben diese Möglichkeit durch Gottes Güte erfahren.
Glaube mir, Geliebte, Dein Mann ist kein schlechter Mann und seine Schritte in Richtung auf ein neues Leben auf dem weit entfernten Kontinent waren ihm mühsam. Er hat stets darüber sinniert, dass er Dich nicht verlassen kann, ohne dafür zu sorgen, dass es Dir gut ergehen möge. Nun hat er dafür gesorgt und wird fortgehen in ein anderes irdisches Leben.
Die Maria Hansen ist arg gequält worden von ihrem Ehemann, und auch sie hat es verdient, ein anderes Leben zu leben. Sei also zuversichtlich - ich sehe Dich im Hause vom Toombers am Sonntag auf einen Kaffee und Kuchen. Und ich sage Dir, es fällt mir sehr schwer, Dich nicht zu berühren und die Fassung zu wahren.
Ich liebe Dich. S«
»Du lieber Himmel«, hauchte Emma ehrfürchtig. »Die große Liebe, die wirklich große Liebe.«
»Da war noch die Rede von acht Zetteln oder Botschaften«, warf ich ein. Ich war erneut an einem toten Punkt, die Augen drohten mir zuzufallen, es war jetzt zwei Uhr fünfzig.
»Ja, ja«, nickte Tessa eifrig. »Hier sind die Zettel. Und sie sind nicht mal verklausuliert. Und geschrieben haben sie der Richter, die Frau Wesendonker, die Frau Hansen und der Wesendonker. Ich frage mich, wie die alte Lehrerin daran kam, aber wahrscheinlich wird das zu den Dingen gehören, die wir nie mehr klären können.
Der erste Zettel stammt von der Maria Hansen. Da steht in fehlerhafter Schrift:
Glaubst du, dass der Bote den Mund wird halten können?
Der Zettel ist nicht datiert. Der nächste Zettel lautet auf das Datum vom 31. Mai. Frau Wesendonker schreibt an den Richter Severus Brandscheid:
In aller Klarheit hat meine Seele es bis gestern nicht gewusst. Ich liebe Dich, ich liebe Dich so sehr. Deine Haselmaus.
Dann ein Zettel vom Wesendonker an Maria Hansen:
Will Dich morgen sehen, muss Dich morgen sehen, kann es nicht mehr erwarten. Zu groß ist das Glück, das mit Dir in mein Leben einzog. K.H.
Dieser Zettel ist undatiert. Dann ein datierter Zettel vom 14. Juni 88 vom Richter an Frau Wesendonker:
Geliebte Haselmaus! Habe die ganze Nacht an Dich und Dein bebendes Herz gedacht. Konnte nicht schlafen, wollte auch nicht schlafen, habe mir höchst vergnügliche Dinge gedacht und bin morgens frisch wie der Tau in mein Büro marschiert. S.
Dann wieder Maria Hansen an Karl-Heinrich Wesendonker, wieder undatiert:
Geliebter Mann, ich habe wohl eine schwere Sünde auf mich geladen. Mein Mann trinkt sehr viel und wollte mir wieder Gewalt antun. Ich war nicht gehorsam, ich habe mich nicht gefügt. Es war im Stall, und die Tiere sind dann immer sehr aufgeregt, wenn etwas passiert. Ich lag da im Mist, und er schlug mich. Und mein ganzes Elend stand vor meinen Augen. Und ich habe geschrien, er solle mich doch verschonen, aber er wollte mich nicht verschonen. Und dann habe ich mit einem Knüppel zugeschlagen und sein Gesicht getroffen. Ich weiß nicht, wie es geschehen konnte, aber ich habe den Knüppel gegriffen, den er sonst benutzt, wenn die Tiere beim Melken nicht sauber in einer Reihe stehen wollen. Gott sei mir gnädig, mein Geliebter. Ich gehe morgen früh gegen neun Uhr beim Krämer Nähsachen einkaufen. Ich hoffe so sehr, Dich zu sehen. Sei es auch nur, um zu erleben, wie Du an mir vorbeigehst, Beinen Hut hebst und Guten Morgen zu mir sagst. Komisch, irgendwie finde ich das lustig. Stets Deine M.
Dann hier der datierte Zettel von Frau Wesendonker an den Richter vom 12. Juli 88:
Ich weiß immer noch nicht, mein Geliebter, wie unser gemeinsames Leben aussehen soll. Und eine gute Köchin bin ich auch nicht. Karl-Heinrich hat das immer mit der allergrößten Geduld ausgehalten, nur einmal hat er gar nicht einmal unfreundlich ausgerufen: Mit deinen Reibekuchen
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