Der Bär
ihr was, Leute, da fängt der Skandal zu kochen an. Nicht der Arzt hat Furcht, nicht der Wesendonker, nicht der Richter, sondern ausgerechnet der eigentlich gar nicht beteiligte Apotheker Toombers. Wieso das?«
»Darf ich was dazu sagen?«, bat ich demütig, worauf Emma und Rodenstock grinsten. »Es ist meines Erachtens nach so, dass da ein Stammtisch der bürgerlichen Elite zusammenhockte. Und zwei höchst ehrenwerte Mitglieder des Stammtisches, nämlich der Richter und ein Steuerbeamter, geraten in durchaus ernsthafte Beziehungsschwierigkeiten. Es ist offensichtlich so, dass die Herrenrunde dabei solidarisch ist und sich keineswegs von den zwei Herren abwendet. Im Gegenteil, denn es geht ja auch um den gutbürgerlichen, soliden Ruf der ganzen Runde.
Ich verstehe immer besser, wie hoch der Druck zu diesem Zeitpunkt ist. Und man muss wissen, wie das damals zuging. Angenommen, es wird offen zur Kenntnis genommen, dass der höchst ehrenwerte Richter ein intimes, außereheliches Verhältnis mit der Ehefrau eines preußischen Steuerbeamten hat, dann wird dieser Richter buchstäblich in die Walachei versetzt. Und zwar nicht als Richter, sondern als billiger Büttel, vielleicht als Verwalter eines preußischen Gefängnisses im hintersten Mecklenburg. Genau dasselbe wird dem Steuereintreiber Karl-Heinrich Wesendonker widerfahren, wenn seiner Behörde zu Ohren kommt, dass er ein intimes Verhältnis mit der Ehefrau eines Eifler Bauern hat. Für beide Männer bedeutet dies das absolute berufliche Aus, es bedeutet aber auch wesentlich geringere Einkünfte. Und noch etwas fiel mir auf: Angenommen, der Skandal kocht hoch, die Verhältnisse werden öffentlich, dann wird jedermann in Gerolstein denken: Wenn der höchst ehrenwerte Richter so etwas treibt, was ist dann mit dem Apotheker, was ist dann mit dem Medizinalrat. Es ist, als ob du einen Stein ins Wasser wirfst - immer weitere Kreise werden gezogen, in Daun wird man ebenso darüber sprechen wie in Wittlich oder Bitburg oder Trier oder Koblenz. Unter dem Druck eines möglichen Skandals kann es zu verrückten Reaktionen kommen. Und eine dieser Reaktionen war Tututs Tod.«
»Wahrscheinlich war die Elite Gerolsteins in einem höchst aufgeregten Zustand, der mit rationalen Maßstäben überhaupt nicht erklärbar ist«, sagte Emma. »Und bei allen unseren Überlegungen müssen wir davon ausgehen, dass nichts undenkbar war. Wirklich gar nichts.«
»Gut, einverstanden«, nickte Rodenstock. »Also, weiter im Text. Weitere vier Tage später steht hier in unserer Sache folgender Eintrag:
Gestern kommen beide Paare zu mir als Patienten. Unabhängig voneinander. Sie hatten wohl dieselbe Idee. Alle vier sind zittrig und nervös, alle vier wissen nicht, wie es weitergehen wird. Versuche, sie zu beruhigen. Kein Erfolg. Wesendonker sagt: Ich will weg hier, nur weg. Der Richter sagt: Ich muss weg hier, nur weg. Die Bäuerin Hansen hat die Erlaubnis der Verwaltung bekommen, auszuwandern. Der Ehemann wurde nicht verständigt, weil alle wissen, dass er sie dauernd züchtigt und quält, Jedermann scheint zu begreifen, dass die Frau fliehen will, nur fliehen, weit weg. Großer Gott, ich danke Dir für meine gute Ehe.
Merkwürdig, wieso benutzt er keine Kürzel? Wahrscheinlich, weil er weiß, dass niemand diese Bücher liest, niemand sich traut, sie aufzuschlagen. - Oh, was ist das ? - Ach du lieber Himmel! Hier steht unter dem Datum 22. Juni 1888:
Erwischt! Im Heu erwischt. Musste Kaplan den Arsch verbinden. Heugabelstich! Kaplan war zu Gast bei adligen Gastgebern in Dreis. Kam hierher, weil er von hier stammt. Traf eine Schulkameradin, Tochter eines Bauern. Sie landeten im Heu oben über der Munterley. Der Vater fand sie in unsittlicher Position. Daher die Heugabel. «
Rodenstock grinste wölfisch. »Diese Aufzeichnungen sind Gold wert. Am 23. Juni geht es mit Tutut weiter. Hier steht:
Bauer Hansen gibt auf. War sowieso nicht von hier. Geht an die Mosel. Ist also verreist. Prompt erscheint Wesendonker, prompt erscheint die Frau des Hansen. Liebe ist seltsam, ist komisch, ist vollkommen meschugge. Apotheker Toombers ist ängstlich. Sagt: Tutut wird nicht schweigen, wenn jemand Geld bietet. Rede mit Tutut, der immer noch unseren Garten bestellt. Tutut sagt: Ich habe noch nie im Leben geredet. Ist mein Brot, dass ich nicht rede. Der Mann ist ehrlicher als mancher hier in der Stadt. Der Kaufmann Ernst Mogge sagte gestern Abend im Hotel, man müsse zusammenstehen. Der Mann hat recht.
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