Der Bär
viel Mut gehabt haben.«
»Ist unsere Zeit ärmer?«, fragte Vater Schmitz.
»Ärmer«, nickte Ingbert. »Entschieden ärmer, würde ich sagen.« Dann räusperte er sich, als habe er etwas höchst Unsittliches gesagt. »Ich frage mich, ob wir jemals herausfinden werden, wer am Abend des 24. August 1888 im Lager des Tutut erschien. Wesendonker war da, soweit ich das weiß und voraussetzen kann. Du wirst ein weites Feld zu bestellen haben, meine Liebe, das kann eine Doktorarbeit allererster Güte werden.«
»Wenn du mir hilfst«, murmelte sie eilig. »Nur, wenn du mir hilfst.«
»Was geschah, als der Bär Wesendonker verletzt hatte? Als Tutut tot war, als Wesendonker in seinem Blut lag?«, fragte ich.
»Das frage ich mich, seit wir davon wissen«, sagte Rodenstock und reckte sich. »Wesendonker kann gar nicht allein gewesen sein. Ich sage euch auch warum. Der Bär hat sich losgerissen oder aber Wesendonker kam ihm einfach zu nahe. Der Bär ist einwandfrei gejagt und geschossen worden, das zumindest ist wohl verbürgt. Ein Bekannter oder Verwandter des Grafen von Manderscheid erledigte das. Entscheidend scheint mir aber, dass Wesendonker erheblich verletzt war und wahrscheinlich viel Blut verlor. Uns heute Geborenen erscheint das lächerlich, aber er hatte das Pferd nicht mehr, das war ebenfalls tot. Zu Fuß nach Gerolstein hätte in dem Zustand ein unüberwindbares Hindernis bedeutet, er wäre ohne Hilfe wahrscheinlich gar nicht so weit gekommen. Der Arzt hat in seinen Aufzeichnungen von einem Prankenschlag der Bestie gesprochen. Mit anderen Worten: Ich gehe jede Wette ein, dass Wesendonker nicht allein in Tututs Lager auftauchte. Da war jemand bei ihm. Und ich bin geneigt, Baumeisters Auffassung zu vertreten: Wahrscheinlich war die ganze Männergruppe beteiligt. Aber das werden wir in dieser Nacht nicht mehr klären. Leute, ich bin erledigt, aus, tot, ich muss ins Bett.«
In diesem Augenblick begann Tessa zu schreien und starrte auf die Tür, die sich lautlos geöffnet hatte. Sie schrie wie am Spieß, rutschte vom Sofa herunter und schlug die Hände vor das Gesicht.
»Was soll denn das?«, fragte der Schamane verschlafen. »Habt ihr hier eine Therapiesitzung?«
Tessa stotterte, konnte nichts sagen.
»Das ist unser Schamane«, stellte ich vor. »Hast du gut geschlafen? Willst du Hilfe?«
»Ich habe mir das überlegt«, nickte er. »Ich glaube, ich will Hilfe.«
Vater Schmitz starrte uns der Reihe nach an, als sei er unversehens in einen HorrorSchocker geraten. »Wieso Schamane?«, fragte er verdattert.
»Das ist mein Beruf und meine Berufung«, erklärte der Schamane würdevoll und riss den Mund ungeheuer weit auf, um zu gähnen.
»Wie weit bist du denn gekommen auf deiner Reise zur Mosel?«, fragte Emma.
»Bis Ulmen«, gab er Auskunft. »Kann ich denn irgendwann mal baden?«
»Kannst du, aber erst muss die Mannschaft schlafen. Kein Krach im Haus.«
»Ich mache niemals Krach«, belehrte er mich.
Fünf Minuten später konnte ich das erstaunliche Erlebnis genießen, allein in meinem Schlafzimmer einzuschlafen. Der Mensch lernt, sich zu bescheiden, und ist mit erstaunlich wenig Aufwand zufriedenzustellen. Der Schamane hatte festgestellt, er gebe sich erneut dem Naturerlebnis hin; jetzt lag er unter der Birke am Teich und schnarchte. Wahrscheinlich hatte ich die Schlafzimmertür nicht fest genug geschlossen, meine Kater kamen herein und legten sich auf meinen Rücken, um mit einem tiefen Seufzer die Zeit ihrer Jagd zu verschlafen. Ich war zu müde, um sie hinauszuscheuchen. Später stritt ich mich mit Emma darüber, wann wir denn in dieser Nacht unsere Betten erreicht hatten. Ich plädierte für fünf Uhr, sie sagte, es sei sechs gewesen. Wahrscheinlich hatte sie recht.
Als ich fähig war, zu blinzeln, war es ein Uhr mittags. Irgendwer im Haus pfiff entsetzlich falsch den River-Kwai-Marsch, dann fiel etwas aus Glas oder Porzellan auf die Fliesen und zerbrach. Jemand fluchte schrill mit durchaus unanständigen Worten. Das war Emma. Rodenstock sagte: »Der Sieger hat noch drei Wurf.« Da wusste ich, sie waren gut gelaunt. Dann schrillte das Telefon, gleich darauf irgendein Handy. Emma klopfte und kam herein. »Ingbert ist weg«, sagte sie.
»Das ist doch kein schlechter Start«, erwiderte ich. »Hat Tessa ihn in die Flucht gejagt?«
»Nein, nein, er ist wirklich weg. Einfach verschwunden. Da muss sich jemand drum kümmern.«
»Mit anderen Worten ich.«
»So haben wir uns das gedacht. Und Esther hat
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