Der Bär
angerufen. Sie musste zu insgesamt sechs Firmen im Hafen von Amsterdam. Die Schifffahrtsunternehmen sind im Laufe der Jahrzehnte jeweils an andere Unternehmen verscherbelt worden. Die Linie heißt jetzt Dubai Enterprises, und die Leute dort sind hilfsbereit. Sie hatte wohl Erfolg und ist auf dem Rückweg. Esther hat in den Listen sowohl Maria Hansen als auch Karl-Heinrich Wesendonker aufgetrieben, zumindest sind sie als reisewillig vermerkt. Alle Feinheiten später von ihr persönlich.«
»Und jetzt fragt ihr euch, ob ...«
»Richtig, wir fragen uns, ob Karl-Heinrich Wesendonker nicht doch in die Vereinigten Staaten kam, aber einfach mit Maria Hansen nichts mehr zu tun haben wollte und sich irgendwo auf dem Kontinent verlor.«
»Das ist durchaus möglich«, sagte ich. »Nur eines müsst ihr bedenken: Bevor er nach Amerika ging, hat er wochenlang das Bett hüten müssen. Dann ist er aber nicht 1888 gereist, sondern erst 1889. Zur Zeit der Herbst-, der Winter- und der Frühjahrsstürme sind die Schiffe zwischen den Kontinenten nämlich nicht rumgeschippert. Außerdem muss in den Aufzeichnungen des Medizinalrates Dr. Xaver Manstein darüber etwas stehen. Damit sind wir noch nicht fertig.«
»Halt keine Vorträge«, mahnte sie. »Kümmere dich mal um Ingbert, bitte.«
Also rasierte ich mich nicht, kämmte mich nur, benetzte beide Augen mit jeweils drei Tropfen Wasser und atmete ein paarmal tief durch, um Ingbert zu retten und den Lebenden zu erhalten. Jeden Tag eine gute Tat.
Rodenstock hockte vor dem Haus und trank eine Tasse Kaffee. Er grüßte aufgeräumt mit einem »Hallo, junger Mann!«, was ich als eine irgendwie widerliche Provokation empfand.
»Wieso bist du so wach?«
»Weil ich ein alter Mann bin, der seine Tage nutzt und seine Zeit niemals verplempert. Ich habe einen hübschen Witz für dich, den mir eben ein Kollege aus dem Landeskriminalamt in Mainz berichtet hat. Bei denen war ein Journalist zu Besuch, der einen Film drehen wollte. Ein polnischer Journalist, der englisch sprechen musste, um sich verständlich zu machen. Bei einem Interview mit einem Kollegen von mir wollte der Pole eine möglichst kurze und prägnante Aussage über Drogen in Deutschland und bat den Kriminalrat: Please, short and pregnant! Ist das nicht witzig? Bitte, kurz und schwanger!«
»Sehr witzig«, sagte ich. »Seit wann ist Ingbert denn weg?«
»Sie wissen es nicht genau. Etwa elf Uhr war es, als er Vater Schmitzens Haus verließ. Fahr einfach mal hin, sie sind beunruhigt. Wenn Esther wieder hier ist, machen wir mit Mansteins Aufzeichnungen weiter.«
Also fuhr ich hin. Der Tag war sehr heiß, ich trödelte, weil Ingbert mir erwachsen genug erschien, um auf sich selbst aufzupassen. Vielleicht hatte er nur die Panik bekommen angesichts der heiratswütigen Tessa.
Das Haus der Schmitzens stand im Lehnenbachtal, genau gegenüber der Munterley. Es machte den verschlossenen Eindruck all der Häuser, die wohlhabende Leute sich bauen.
Vater Schmitz kam um die Hausecke. »Wir sitzen auf der Terrasse.« Er ging vor mir her.
Tessa hockte verheult an einem weiß lackierten runden Holztischchen.
»Hey«, sagte ich, »er wird gleich auftauchen und lächeln.«
»Wird er nicht. Sein Handy hat er mitgenommen, und normalerweise hätte er längst angerufen. Und ich habe versucht, ihn anzurufen. Zehnmal. Er meldet sich einfach nicht. Und das ist noch nie passiert.« Sie schniefte.
»Hat er denn gesagt, wen er treffen will oder mit wem er noch reden möchte?«
»Hat er nicht, hat er eben nicht«, sagte sie.
»Wie war die Szenerie hier im Haus?«, fragte ich.
»Also, sie haben in Tessas altem Mädchenzimmer geschlafen«, erklärte Schmitz. »Gegen zehn Uhr, sagt Tessa, ist Ingbert aufgestanden. Meine Frau war in der Küche. Ich schlief noch. Gegen elf kam Tessa und fragte nach Ingbert. Meine Frau war schon fort zum Einkaufen, sie ist nach Köln gefahren. Ingbert war weg. Ich habe meine Frau erreicht: Sie sagt, Ingbert wolle in die Stadt, also nach Gerolstein hinein. Das ist alles, was wir wissen.«
»Ist er zu Fuß unterwegs?«
»Zu Fuß«, nickte Tessa.
»Dann gehe ich auch zu Fuß. Und Sie bleiben bitte hier.«
Es war jetzt vierzehn Uhr. Ich ging gemächlich, ich war nicht bereit, Tessas Panik zu teilen. Ingbert war erwachsen, was sollte ihm passieren?
Wie üblich waren an dem heißen Mittag nur wenige Menschen unterwegs. Ich schlenderte und hielt mich im Schatten. Was konnte Ingbert gesucht haben? Wohin konnte er gegangen sein?
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