Der Bär
Hatte er sich mit jemandem verabredet?
Ich stopfte mir die Prato von Lorenzo und paffte vor mich hin.
Vor dem neuen Bistro Piano am Rondell waren die Tische alle besetzt. Ich hörte niederländisch, belgisch, französisch, sächsisch - ein angenehmes, freundliches Durcheinander. Kinder tollten herum. Auf der einen Seite schien die Stadt in der Mittagshitze Siesta zu machen, auf der anderen Seite aber strotzte sie vor Lebendigkeit. Es war die Stunde der Touristen.
Ich ging ins Piano und fragte nach Ingbert. »Er ist dreißig, sehr schmal, trägt eine Nickelbrille und sieht aus wie ein Professor.«
»Nicht... oder doch, warte mal. Ja, der kam hier vorbei und trank einen Espresso. Kurz vor Mittag, kann das sein? Er ist dann weitergegangen. Runter ist er gegangen.«
»Hat er jemanden getroffen?«
»Nichts gesehen.«
Der Obstverkäufer auf der linken Seite wusste etwas mehr. »Ja, der hat einen Apfel gekauft, einen Granny Smith. Dann hat er reingebissen und ist weitergegangen.«
Also weiter. Jetzt rechts zum Rondell? Oder geradeaus über die Eisenbahnbrücke in Richtung Volksbank? Es war einfach und zugleich schwierig. Wahrscheinlich meldete er sich nicht, weil er ungestört sein wollte. Wahrscheinlich würde er auftauchen und ganz verwundert fragen: Wieso sucht ihr mich denn? Kann der Mensch nicht mal spazieren gehen? Wenn er um elf Uhr losmarschiert war, dann dauerte der Spaziergang bis jetzt dreieinhalb Stunden. Bei der Hitze ziemlich merkwürdig.
Auf der Brücke traf mich die Hitze wie ein Schlag, ich begann zu schwitzen, der Schweiß lief mir hinter die Brillengläser, ich brauchte ein Taschentuch, hatte keins - irgendetwas vergisst man immer.
Im Dolomit-Cafe kaufte ich mir eine Tüte Eis und ging weiter in Richtung Industriegebiet. Das war der öde Teil Gerolsteins. Kurioserweise der Teil, auf den die Stadt stolz ist, wenngleich hier und da Farbe fehlt, das Grau von Beton überwiegt. Verdammt noch mal, Ingbert, wo steckst du?
Die Waffeltüte brach ab und klatschte samt Eis auf das Trottoir, jetzt hatte ich klebrige Hände. Es war wohl nicht mein Tag.
Ich fand ihn an einem Punkt, den ich mir in meinen kühnsten Träumen nicht hätte ausdenken können. Dort, wo die schmale Straße zur alten Drahtfabrik hochgeht, wo rechts und links - abgesehen von ein paar alten Häuschen aus den Fünfzigern - nichts außer verwilderte Gärten zu finden ist. Er saß auf dem Asphalt in der glühenden Hitze. Zuerst sah ich nur seine Beine in den schrecklich alten, konservativen Sandalen, die man schon vor dem Zweiten Weltkrieg als unmodern bezeichnet hätte. Er bewegte sich nur matt, lallte irgendetwas durch das Blut in seinem Mund. Sein ganzer Kopf schien in Blut getaucht worden zu sein. Das Hemd, ehemals weiß, leuchtete grellrot, eine Wunde an der linken Halsseite blutete immer noch, und seine braune Leinenhose war bis zu den Knien verdreckt und blutig. Er stank entsetzlich nach Blut und Pisse, und wahrscheinlich saß er seit einer Ewigkeit vollkommen hilflos an diesem Fleck - seit ihn irgendjemand erwischt hatte, seit er Bekanntschaft gemacht hatte mit blödsinniger, vollkommen sinnloser Gewalt. »Halt dich still«, sagte ich.
Er lallte irgendetwas, sein Kopf hing in einem extremen Knick nach vorn, aber immerhin griff er matt nach meiner Hand, als ich ihn berührte.
Dann kam sein Kopf hoch, unendlich langsam, und er versuchte mich anzublicken, aber seine Augen versanken immer wieder im Nebel, waren nicht klar.
»Wer war es?«
Er reagierte nicht, sein Kopf hing wieder nach vorn.
Ich begann ihn abzutasten. Wahrscheinlich war irgendetwas gebrochen, denn sein linkes Bein war merkwürdig verdreht. Als ich das Knie berührte, stöhnte er auf. Dann spuckte er einen Zahn aus.
Ich wählte den Notruf. Sie sagten, sie seien in zwei Minuten da. Und sie waren in zwei Minuten da und machten wie üblich nicht viel Aufsehen, ließen nicht einmal die Sirene heulen. Ihr Job war Hilfe zu leisten, und sie waren sehr schnell dabei. Sie luden ihn auf die Trage und waren auf und davon, noch ehe ich irgendetwas gesagt hatte.
Ich hockte da in der schattenlosen, grellen Hitze und war benommen. Und noch ehe ich mich drehte, aufstand und mich darauf besann, Vater Schmitz anzurufen, waren sie hinter mir. Sie waren zu zweit, sie sagten kein Wort, sie begannen übergangslos zu treten. Ich erinnere mich, dass ich ganz verwundert war, dass sie in der Hitze Springerstiefel trugen. Springerstiefel ohne Socken.
Der erste Tritt traf mich oben an der
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