Der Bann (German Edition)
helfen. Trotz ihrer Befürchtungen, eine der Wunden könnte wieder aufreißen, hatte er es geschafft. Weil er ein gewohnheitsmäßiger Optimist war, spornte ihn dieser kleine Fortschritt an, und nachdem er ihr dreimal im Verlauf einer Stunde auf den Hintern geschlagen hatte, wenn sie an der Couch vorbeigekommen war, wusste sie, dass er sich erholte.
Zweimal ertappte sie sich dabei, wie sie darüber brütete, was passiert wäre, wie das Leben gewesen wäre, hätte Nate es nicht geschafft. Beide Male verschwamm ihr Blick, und ihre Hände fingen an zu zittern, als ihr bewusst wurde, wie einsam und verloren sie gewesen wäre. Die Aussicht, um Leahs willen ein neues Leben ohne Nate beginnen zu müssen, war so unfassbar niederschmetternd, dass es ihr unmöglich war, diesen Gedanken an sich heranzulassen. Wie sollte sie Leah vor dem schützen, was sie erwartete? Ein Sturm, weit schlimmer als alles, was sich in den letzten Tagen am Himmel zusammengebraut hatte.
Sie wusste, dass Jakab sie aufspüren würde. Sie wusste es in ihrem tiefsten Innern. Und obwohl sie überzeugt war, dass sie diese Konfrontation allein nicht bestehen konnte, nachdem ihr Vater mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit tot war und Nate schwer verletzt und außer Gefecht, fiel ihr die Bürde zu, alle drei zu beschützen.
Ich bitte dich um ein Treffen. Nur du und ich, niemand sonst. Wo immer du willst. Draußen im Freien.
Die Erinnerung an Jakabs Stimme erfüllte sie mit Abscheu. Sie hütete sich davor, ihm auch nur ein einziges Wort zu glauben. Obwohl sie wusste, dass er ein Monster war, ein geisteskranker Besessener, hatte sie sich von seiner Stimme unerklärlicherweise angezogen gefühlt.
Du bestimmst den Ort. Aber ich möchte dich sehen, nur einmal sehen. Reden. Erklären. Es gab so viele Unwahrheiten. Ich mache dir keinen Vorwurf, dass du verwirrt bist.
Es war verstörend, es zuzugeben, doch vielleicht war ein kleiner Teil von ihr nach all den Jahren bereit, die Kontrolle aufzugeben und sich dem Schicksal zu überlassen. Sie hatte Raubtiere in der Wildnis jagen sehen, war fasziniert von der Art und Weise, wie sie ihre Beute weiter und weiter hetzten, bis sie ihr letztes Quäntchen Energie verbraucht hatten und nicht mehr konnten. Und wenn der Jäger am Ende seine Beute stellte, schien sie sich häufig zu entspannen und ihren Tod sogar zu akzeptieren. Jene letzten Momente, so grausig sie in einer Hinsicht sein mochten, so intim waren sie auch auf eine Weise. Vielleicht löste die Erkenntnis, dass man geschlagen war, dass es wirklich keine Hoffnung mehr gab, etwas im Gehirn aus, etwas, das einem ermöglichte, sein Schicksal anzunehmen.
In der Küche öffnete Hannah die Schränke und ging die Vorräte durch. Es war Vormittag, doch sie musste schon bald das Essen für alle zubereiten. Als sie an Nates Sofa vorbeikam, streckte er die Hand aus und ergriff ihren Arm.
«Wenn du die Schrotpatronen jetzt zum vierten Mal zählen gehst, dann muss ich mir ein neues Bett suchen. Fünfundzwanzig Patronen in einer Schachtel. Zwei volle Schachteln und eine dritte mit sechs Patronen. Das sind insgesamt sechsundfünfzig Schuss sowie zwei in der Flinte. Macht achtundfünfzig. Genauso viel wie beim letzten Mal, als du gezählt hast. Und beim vorletzten Mal. Und davor.»
Sie sah hinunter in seine glitzernden Augen. «Ich werde verrückt, wie?»
«Total. Zieh dir einen Stuhl heran und setz dich für einen Moment», sagte er und deutete auf den Lehnstuhl, der auf der anderen Seite des Kamins stand. Sie holte den Stuhl und setzte sich.
«Gib mir deinen Fuß.»
Hannah hob einen Fuß und legte ihn auf die Sofakante. Nate löste die Schnüre, nahm den Stiefel ab und zog ihre Socke herunter. Dann massierte er mit den Fingern ihre Zehen.
Sie stöhnte und schloss die Augen. «Du hast keine Ahnung, wie gut das tut.»
«Deswegen hast du mich geheiratet.»
«Mir fallen spontan noch ein paar Gründe mehr ein.»
«Mir auch. Aber ich glaube nicht, dass die Nähte das jetzt schon aushalten.»
Hannah öffnete die Augen, und als sie sah, wie er sie angrinste, überkam sie wildes Verlangen nach ihm. Sie hatten immer eine sehr enge körperliche Beziehung gehabt, viel enger, vermutete sie, als andere Paare, deren Leben frei war von ständigen Verlustängsten. Ihr Verlangen war aber mehr als bloße körperliche Anziehung. Sie vertraute ihm bedingungslos, und sie verstanden sich blind. Hannah war ein Produkt ihrer Umwelt. Aufrichtigkeit, Vertrauen, Sicherheit waren die
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