Der Bann (German Edition)
zu, den sie zusammen mit dem letzten Brot verzehrten. Danach brachte sie Leah im Elternschlafzimmer zu Bett. Dann machte sie ihre Runde durch das Erdgeschoss, kontrollierte Schlösser und sicherte Fenster. Zuerst wollte sie sämtliche Vorhänge zuziehen, doch dann beschloss sie, das Licht ausgeschaltet und die Vorhänge offen zu lassen. Auf diese Weise waren mögliche Eindringlinge leichter zu entdecken.
Nachdem alles verriegelt und verschlossen war, half sie Nate nach oben ins Schlafzimmer. Leah schlief bereits unter der Decke des großen Himmelbetts.
«Ich glaube nicht, dass ich Schlaf finde», sagte Hannah leise.
«Möchtest du, dass wir abwechselnd Wache halten?»
«Eine gute Idee. Es tut mir leid, Nate, aber ich habe wirklich ein ganz komisches Gefühl.»
«Das muss dir nicht leidtun. Ich vertraue deinen Instinkten. Soll ich die erste Schicht übernehmen?»
Sie schüttelte den Kopf und küsste ihn. «Ich bin viel zu aufgedreht, um jetzt zu schlafen. Ruh dich aus, okay? Du bist immer noch nicht wieder gesund.»
«Weckst du mich?»
«Sobald ich merke, dass ich nicht mehr kann.» Sie wusste schon jetzt, dass sie ihn nicht wecken würde. Vor ihnen lag eine weite Reise, und in seinem gegenwärtigen Zustand war das anstrengend genug für ihn.
Minuten später war Nate eingeschlafen. Hannah warf mehr Holz ins Feuer und setzte sich neben das Fenster, um nach draußen zu spähen.
Die Dunkelheit war beinahe undurchdringlich. Der Mond war ein schwach schimmernder Fleck hinter dichten Wolken. Sie konnte so eben die Umrisse des Sees erkennen und den Schatten der Brücke über den Fluss.
Nichts rührte sich.
Irgendwo dort draußen lauerte Jakab. Sie hatte keine Ahnung, wie nah er bereits war. Sie fragte sich, was im Nachbartal vorging, wo Sebastien wohnte. Der Anblick des alten Mannes und der beiden Fremden hatte sie zutiefst erschreckt. Er hatte ihr erzählt, er würde isoliert leben, zurückgezogen von der Welt.
Und was war mit Gabriel? Mehrere Male während ihres Ausrittes hatte er die Unterhaltung auf gefährliches Terrain gelenkt, ohne im Gegenzug viel von sich selbst preiszugeben.
Vielleicht war alles reiner Zufall und hatte nichts mit ihren Problemen zu tun. Vielleicht war sie so übermüdet, dass sie anfing, Zusammenhänge zu sehen, wo keine waren. Sie blickte zum Bett. Nate schlief. Seine Brust hob und senkte sich unter der Decke. Neben ihm lag Leah, in seinen Arm gekuschelt. Hannah beobachtete die beiden, und sie wusste, dass sie nicht aufgeben würde, ganz gleich, wie erschöpft sie war. Sie
konnte
nicht.
Ganz egal, wie die Chancen stehen – kämpf weiter, bis nichts mehr da ist, wofür du kämpfen kannst.
Die Worte ihres Vaters. Der Gedanke an ihn schmerzte in ihrer Brust. Dieser letzte Anruf war die schwierigste Unterhaltung ihres Lebens gewesen. Was war hinterher mit ihm geschehen? Mit großer Wahrscheinlichkeit würde sie es niemals herausfinden.
Obwohl sie sämtliche Türen verschlossen hatte und niemand in den Raum konnte, ohne an ihr vorbeizukommen, fühlte sie sich schrecklich exponiert. Die Dunkelheit draußen war beklemmend. Sie drückte gegen die Fenster.
Hannah warf einen Blick auf die Leuchtziffern ihrer Uhr. Schon zwanzig nach drei. Vier Stunden bis Sonnenaufgang. Dreieinhalb Stunden bis zum ersten Tageslicht.
Je länger sie im Zimmer war, desto stärker wurde ihre Unruhe. Wenn draußen irgendwas geschah, oder unten, würde sie es erst bemerken, wenn es an der Schlafzimmertür war. Als ihr dämmerte, dass ihre Unruhe sich nicht legen würde, erhob sie sich.
Die Flinte lehnte in einer Ecke. Sie nahm die Waffe und überprüfte aus reiner Gewohnheit die Läufe. Immer noch mit zwei Patronen geladen. Immer noch vier Patronen in ihrer Jeans. Sie schob den langen Schaft ihrer Maglite in die vordere Hosentasche. Ging zur Schlafzimmertür und öffnete sie leise.
Der Flur draußen war ein schwarzes Nichts, aus dem jederzeit namenloses Grauen auftauchen konnte. Sie wollte die Taschenlampe benutzen, wollte die Schatten vertreiben – doch sie wollte nicht, dass jemand draußen das Licht bemerkte.
Hannah trat hinaus in die Dunkelheit und lauschte. Trotz der Feuer in den Kaminen, die sie in den vergangenen Tagen ständig in Gang gehalten hatte, roch die Luft feucht und modrig. Das Haus knarrte und knackte. Ein Fenster klapperte im Wind.
Sie wusste, dass auf halbem Weg zur Treppe eine Diele lose war, und umging sie vorsichtig. Am oberen Treppenabsatz passierte sie die Vitrine. Sie spürte
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