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Der Bann (German Edition)

Der Bann (German Edition)

Titel: Der Bann (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen L. Jones
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Brunnenbecken und tippte mit den Knöcheln einen komplizierten Rhythmus auf den Knien. Neben ihm stand seine Aktentasche.
    Als Charles sich näherte, blickte Beckett auf. Das Alter hatte seinen Akademiker-Spleens nichts anhaben können. Er zuckte zusammen und sprang auf. «Da ist er ja! Professor Charles Meredith, Bezwinger der allmächtigen
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    Charles schüttelte den Kopf. «Bitte, Patrick.» Er war nicht in der Stimmung für Becketts Theatralik.
    Beckett zuckte überrascht zurück, dann schlug er Charles mit der Hand auf die Schulter. «Warum so bedrückt, mein Freund? Ich würde Triumph erwarten, Jubilieren, vielleicht eine Spur von falscher Bescheidenheit – aber wirklich nur eine winzige Spur! Jedenfalls nicht dieses betrübte Gesicht, das sich mir nun zeigt. Kommen Sie, setzen Sie sich zu mir. Die Bank ist feucht, aber Sie dürfen mit auf meine Decke.» Er deutete auf einen Streifen karierten Stoff, den er auf dem Holz ausgebreitet hatte.
    Charles setzte sich. «Sie sagten, Sie hätten etwas mit mir zu besprechen?»
    «Wie immer geradewegs auf den Punkt. Keine Lust auf Smalltalk.» Beckett kramte in einer Tasche und brachte einen silbernen Flachmann zum Vorschein. «Vorher muss ich allerdings auf einem Toast bestehen.»
    Er schraubte den Verschluss ab, nahm einen Schluck, biss die Zähne zusammen und schluckte. «Auf den Erfolg Ihrer
Germanic Peoples
. Und – faszinierender noch – Ihren verblüffenden Auftritt als Volkskundler.
Geburt und Tod einer ungarischen Legende
war eine Offenbarung, Charles.» Er reichte Charles die Flasche.
    «Sie haben es gelesen?»
    Becketts Augen glitzerten. «Ich habe es geradezu verschlungen.»
    Charles nahm den Flachmann entgegen und trank einen großzügigen Schluck. Die sirupartige Flüssigkeit brannte wie Feuer in seiner Kehle. Er hustete und blinzelte die Tränen zurück. «Gütiger Himmel, Patrick, was haben Sie da drin?»
    Beckett grinste. «Sie kennen Pálinka nicht? Ein Pflaumenbranntwein aus Szatmar. Schien mir das passende Getränk zu sein für unseren Toast.»
    Charles gab ihm den Flachmann zurück und wischte sich über den Mund. «Ich dachte, Sie mögen keine Spirituosen?»
    «Der Geschmack ändert sich mit dem Alter, Charles. Ich hatte ja keine Ahnung, dass Sie sich so für die
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interessieren.»
    «Es ist sicher zwanzig Jahre her, dass ich Sie zum ersten Mal danach gefragt habe. Ich schätze, Sie haben meine Neugier geweckt.»
    Beckett neigte den Kopf. «Wie außergewöhnlich. Und jetzt sind Sie nach all der Zeit wieder hier, eine Autorität auf dem Gebiet.»
    «So würde ich das nicht sagen.»
    «Jetzt tun Sie doch nicht so.»
    «Es war wohl kaum eine brillante Arbeit, Patrick.»
    «Einiges von dem Material, das Sie zitieren … wie haben Sie das bloß herausgefunden?»
    «Die Quellen sind sämtlich genannt.»
    Beckett hob die Augenbrauen. «Und doch war ich in den meisten Fällen nicht imstande, Ihre Quellen nachzuvollziehen, Charles.»
    «Sie haben es nachgeprüft?»
    «Mein lieber Charles, bitte glauben Sie nicht, ich würde Ihre Authentizität in Frage stellen. Sie wissen, wie sehr ich fasziniert bin von diesem Stoff. Es ist nur so, dass ich gerne die Quellen lese, wann immer möglich.»
    «Nun, Ihr Interesse schmeichelt mir.» Er zögerte unbehaglich. «Sie sagten am Telefon …»
    «Ah, richtig. Ich sagte, ich müsste Ihnen etwas zeigen, nicht wahr, etwas, von dem ich glaube, dass es Sie kitzelt. Ich habe seit Jahren mit dem Hintern darauf gesessen, stellen Sie sich das vor! In Ihrem Artikel erwähnten Sie etwas, das mich wieder darauf brachte. Die sogenannte große Keulung der
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 – eine Art Genozid – irgendwann Ende des neunzehnten Jahrhunderts. Eine abscheuliche Episode.»
    Charles runzelte die Stirn. Ihm missfiel die Art und Weise, wie Beckett über volkstümliche Legenden sprach, als wären es historische Fakten. «Das sind nur Geschichten, Patrick. Viele unterschiedliche Darstellungen des gleichen grundlegenden Sachverhalts. Diese Verweise auf eine Keulung tauchen erst in den Versionen auf, die um die Jahrhundertwende entstanden sind. Sie kennen meine Meinung dazu. Als der Aberglaube nach und nach aus der Gesellschaft verschwand – und mit ihm die mutmaßlichen
Hosszú-életek
-Sichtungen –, diente es vermutlich als Möglichkeit, den Mythos am Leben zu erhalten. Als Erklärung für die Abwesenheit von
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in der modernen Gesellschaft.» Charles zuckte die Schultern. «Wer weiß

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