Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Bann (German Edition)

Der Bann (German Edition)

Titel: Der Bann (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen L. Jones
Vom Netzwerk:
stehen, schlitternd, während die Hufe Halt suchten. Der Kopf schwang zu Hannah herum, die dunklen, glänzenden Augen begegneten ihrem Blick, und das Tier erstarrte. Seine Flanken hoben und senkten sich, als er röhrte, und aus seinem Maul stieg eine Dampfwolke auf. Das Tier war riesig, und sein Geweih hatte so viele Verzweigungen wie ein Baum Äste.
    Hannah hob das Gewehr, obwohl sie wusste, dass es nicht geladen war. Sie hob es trotzdem.
    Der Hirsch bewegte den Kopf zur Seite und beobachtete sie. Und dann bemerkte sie fassungslos, wie er die Vorderbeine abknickte und niederkniete. Er zog die Hinterbeine unter den Leib und wartete.
    Hannah starrte das Tier verständnislos an.
    Erst ganz langsam dämmerte ihr, dass der Lärm, der hinter ihr ertönte und den sie bisher weder gehört noch beachtet hatte, Schreie waren. Die Schreie ihrer Tochter Leah.

Kapitel 17
    Oxford
    1997
    D ünner Nebel senkte sich herab, als Charles den Wagen zwei Straßen entfernt von Becketts Haus parkte.
    Eine Nacht war vergangen seit ihrem Treffen im Botanischen Garten der Universität. Charles hatte seitdem nicht geschlafen und die Unterhaltung wieder und wieder durchgespielt, als er neben Nicole in der Dunkelheit gelegen hatte. Schließlich hatte er akzeptiert, dass er in dieser Nacht wohl keinen Schlaf mehr finden würde. Resigniert schlich er nach unten in sein Arbeitszimmer, zog die Vorhänge zu und setzte sich an seinen Schreibtisch. Aus einer verschlossenen Schublade nahm er die Tagebücher, die Übersetzungen sowie sein Notizbuch mit dem selbsterstellten Register nebst Anmerkungen.
    Er fluchte, als er feststellte, dass die Eleni an drei Stellen erwähnt wurden. Warum hatte er nie daran gedacht, diesen Verweisen nachzugehen? Außerdem – warum hatte er Beckett angelogen? Er erinnerte sich an seine Worte.
Die Eleni waren die Organisation, die mit der Durchführung des Genozids beauftragt war.
    Im Verlauf seiner Nachforschungen hatte Charles mehrere Schilderungen gefunden, wie das Massaker an den
hosszú életek
angeblich durchgeführt worden war, einschließlich einer denkwürdigen Passage in den Tagebüchern von Hans Fischer. Einer Version zufolge waren die jungen
életek
während ihres
végzet
im Gebäude eingesperrt und das Haus in Brand gesteckt worden. Nach einer anderen waren sie in einen Lastkahn auf der Donau gesteckt und versenkt worden. Die alten
életek
wurden, sofern man sie fand, erschossen, aufgehängt oder geköpft. Gleichgültig, welche Methoden zum Einsatz gekommen waren, das Resultat war in allen Fällen das Gleiche: ein Massaker. Charles klappte sein Notizbuch zu und ging zum Barschrank, wo er sich einen Glenlivet einschenkte.
    Du fängst an zu zweifeln, richtig? Zwanzig Jahre der Dauerberieselung mit diesem Märchen zeigen allmählich ihre Wirkung. Dein Verstand ist verunreinigt, und jetzt bist du nicht mehr imstande, Mythos und Realität auseinanderzuhalten.
    Er setzte sich wieder in seinen Sessel und schwenkte sein Glas. Fing er vielleicht an, seine Fähigkeit zu rationaler Überlegung einzubüßen? Er nahm einen Schluck vom Whisky und ließ die Flüssigkeit durch seine Kehle rinnen, während er über sein Treffen mit Beckett nachdachte. Wie war es möglich, dass der alte Gelehrte ein hundert Jahre altes königliches Dekret besaß? Und warum hatte er auf Charles’ Frage nach seiner Herkunft so ausweichend geantwortet? Während der gesamten Unterhaltung hatte Charles das Gefühl gehabt, dass Beckett ihn abschätzend beobachtete und sich insgeheim über ihn lustig machte – einen Mann, mit dem er seit mehr als zwei Jahrzehnten befreundet war.
    Ist Jakab in Becketts Rolle geschlüpft?
    Charles hustete erstickt. Würgte beinahe. Er beugte sich vor und stellte das Glas auf den Tisch. Whisky schwappte auf seine Notizen. «Mach halblang, alter Dummkopf», murmelte er. «Du steckst schon viel zu lange in dieser Geschichte. Sie hat Nicoles Verstand getrübt, und jetzt trübt sie deinen.»
    «Wie geht es übrigens Ihrer Frau, Nicole?»
    «Gut, danke.»
    «Ist lange her, dass wir uns gesehen haben. Wir sollten uns vielleicht zum Essen verabreden. Was meinen Sie?»
    Charles spürte, wie ihm das Blut in den Adern gefror, als es ihm dämmerte. Er war ganz sicher: In den zwanzig Jahren, seit sie zusammen waren, hatte Beckett Nicole kein einziges Mal gesehen, war ihr nie begegnet, hatte sich nie auch nur nach ihr erkundigt. Der Mann war ein fanatischer Junggeselle, allseits bekannt für seine Ansicht, dass Frauen nur eine

Weitere Kostenlose Bücher