Der Bauch von Paris - 3
in der Weinschenke war, sah sie, wie sich Logre auf die Bank in dem kleinen Gelaß warf, von seinen Laufereien durch die Faubourgs61 erzählte und erklärte, er sei tot vor Erschöpfung. An Logres Schuhen war kein Staubkörnchen. Da lächelte sie verschwiegen und trug, die Lippen zusammengekniffen, ihren Johannisbeerlikör davon.
An ihrem Fenster vervollständigte sie dann ihr Aktenstück. Dieses sehr hoch gelegene Fenster, das die Nachbarhäuser beherrschte, verschaffte ihr endlose Genüsse. Zu jeder Tagesstunde ließ sie sich dort nieder wie auf einem Beobachtungsstand, von dem aus sie das ganze Viertel bespähte. Zuerst einmal waren ihr die Zimmer gegenüber und rechts und links von ihr bis zu den kleinsten Einrichtungsgegenständen vertraut; sie hätte, ohne eine Kleinigkeit zu übergehen, über die Gewohnheiten der Bewohner berichten können, ob sie in guter oder schlechter Ehe lebten, wie sie sich wuschen, was sie zum Abendbrot aßen; sogar die Leute, die sie besuchen kamen, kannte sie. Dann hatte sie einen Ausblick auf die Markthallen, so daß keine Frau aus dem Viertel die Rue Rambuteau überqueren konnte, ohne daß sie sie gewahrte. Ohne sich zu täuschen, sagte sie, woher die Frau kam, wohin sie ging, was sie in ihrem Korb trug und ihre Lebensgeschichte, ihren Mann, ihre Kleider, ihre Kinder und ihr Vermögen. Das ist Frau Loret, die ihrem Sohn eine gute Erziehung angedeihen läßt. Das ist Frau Hutin, eine arme, kleine, von ihrem Mann vernachlässigte Frau. Das ist Fräulein Cécile, die Schlachterstochter, die kein Mensch heiratet, weil sie Skrofeln hat. Und sie hätte tagelang weitergeredet, leere Phrasen aneinandergereiht und sich an kleingehechelten Begebenheiten ergötzt, die niemand interessierten. Aber von acht Uhr an hatte sie nur noch Augen für das Fenster mit den Mattglanzscheiben, auf denen sich die schwarzen Schatten der Gäste im kleinen Gelaß abzeichneten. Sie hatte von dort die Abspaltung von Charvet und Clémence festgestellt, weil sie ihre dürren Schattenrisse nicht mehr auf dem milchigen Ölpapier wiederfand. Kein Ereignis geschah dort, ohne daß sie es schließlich aus gewissen jähen Enthüllungen dieser Arme und dieser lautlos auftauchenden Köpfe erriet. Sie wurde sehr scharfsinnig, deutete die langgezogenen Nasen, die gespreizten Finger, die aufgerissenen. Münder, die verächtlichen Schultern und verfolgte auf diese Weise Schritt für Schritt die Verschwörung, so daß sie an jedem Tage hätte sagen können, wie die Dinge standen. Eines Abends erschien ihr das fürchterliche Ende. Sie gewahrte den Schatten von Gavards Pistole, den ungeheuren Umriß des Revolvers, der ganz schwarz war auf den bleichen Scheiben und die Mündung vorstreckte. Die Pistole verschwand, erschien wieder, vervielfältigte sich. Das waren die Waffen, von denen sie Frau Quenu erzählt hatte. An einem anderen Abend dann begriff sie nichts mehr. Sie bildete sich ein, daß man Patronen herstellte, als sie unendliche Stoffstreifen sich erstrecken sah. Am nächsten Tage ging sie um elf Uhr hinunter, unter dem Vorwand, Rose zu fragen, ob sie eine Kerze habe, die sie ihr ablassen könne, und erspähte mit einem verstohlenen Blick auf dem Tisch des kleinen Gelasses einen Haufen rotes Leinenzeug, das ihr sehr erschreckend vorkam. Ihr Aktenstück für den nächsten Tag erhielt eine entscheidende Wichtigkeit.
»Ich möchte Sie nicht erschrecken, Madame Quenu«, sagte sie, »aber das wird zu furchtbar … Ich habe Angst, auf Ehrenwort! Erzählen Sie es um nichts in der Welt weiter, was ich Ihnen jetzt anvertraue. Sie würden mir den Hals abschneiden, wenn sie es erführen.«
Nachdem ihr die Fleischersfrau geschworen hatte, sie nicht zu gefährden, erzählte sie von dem roten Leinenzeug.
»Ich weiß nicht, was das sein kann. Es war ein großer Haufen davon da. Man hätte meinen können in Blut getränkte Lappen … Logre, Sie wissen, der Bucklige, hatte sich einen um die Schulter gelegt. Wie ein Henker sah er aus … Sicher ist das noch irgendeine Machenschaft.«
Lisa antwortete nicht, schien nachzudenken, hielt die Augen gesenkt, spielte mit dem Griff einer Gabel und schob die Stücken frisch gesalzenen Schweinefleisches auf ihrer Platte zurecht.
Fräulein Saget fuhr sacht fort:
»Ich, ich an Ihrer Stelle würde nicht so ruhig bleiben, ich würde mich vergewissern … Warum gehen Sie nicht in die Stube Ihres Schwagers hinauf nachsehen?«
Lisa zuckte leicht zusammen. Sie ließ die Gabel los, musterte die Alte mit
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