Der Bedrohung so nah (German Edition)
fast noch ein Kind. Vielleicht sechzehn, höchstens siebzehn Jahre alt, aber das habe ich Ihnen ja schon erzählt. Und er hat mich angelächelt. Das hat mich völlig aus der Bahn geworfen.“ Sie lehnte sich vor und legte den Kopf in die Hände, in der Hoffnung, die blutigen Bilder vertreiben zu können – und mit ihnen ihre Schuld. „Er hatte eine Waffe, Nick. Ich hätte ihn ausschalten müssen, aber ich konnte nicht. Ich habe es nicht übers Herz gebracht, auf ein Kind zu schießen. Meine Ausbildung, mein Training – alles umsonst. Ich hatte einfach nicht den Mumm, ihn zu stoppen. Wie eine verdammte Anfängerin habe ich dagestanden, während er seine Pistole hob und mich niederschoss.“
Nick fluchte.
„Als ich zu Boden ging, habe ich abgedrückt – und ihn offenbar auch getroffen –, doch als ich mich wieder aufgerappelt hatte, hatte einer der anderen beiden Danny bereits in den Rücken geschossen.“
„Sind Sie sicher, dass Sie den Mann auf dem Gerüst getroffen haben?“, fragte er.
„Ja. Ich habe gesehen, wie er über das Geländer gefallen ist.“
Sie schloss die Augen um kämpfte gegen ihre Gefühle an. Egal, wie schmerzhaft es war, sie würde Nick alles erzählen müssen. Sie fragte sich, wie er wohl reagieren würde, wenn er herausfand, dass sie das Leben ihres Kollegen für ihr eigenes aufs Spiel gesetzt hatte.
„Ich hätte es verhindern können, wenn ich mich wie ein Cop verhalten hätte.“
„Hinterher ist man immer …“
„Danny wurde angeschossen, weil ich zu feige war zu schießen.“
„Sie standen unter Beschuss“, sagte er. „Natürlich hatten Sie Angst. Das ist menschlich.“
„Ich war so darauf versessen, die Männer festzunehmen, dass ich nicht mehr logisch denken konnte. Als nicht alles so lief wie geplant, habe ich Panik bekommen. Ich hab nur auf den Jungen geschossen, um meinen eigenen Kopf zu retten. Dabei hätte ich es viel früher tun müssen. Für Danny. Ich habe meinen Partner im Stich gelassen. Mein Gott, dafür gibt es keine Entschuldigung …“ Ihre Stimme kippte.
Die Stille, die folgte, war unerträglich. Wie Blei legte sie sich auf ihre Schultern, während die Worte, die sie aus tiefstem Herzen hasste, unerbittlich in ihrem Kopf hallten und sie beschämten.
Ich habe meinen Partner im Stich gelassen .
Sie bereitete sich innerlich auf die Verachtung vor, die ihr aus Nicks Augen entgegenschlagen würde, bevor sie ihn ansah. Doch zu ihrer großen Überraschung fand sie dort nichts als Verständnis.
„Sie haben Ihr Bestes gegeben, McNeal. Mehr können wir alle nicht tun. Sie haben gezögert, weil der Angreifer fast noch ein Kind war. So was ist hart.“
„Ein Kind mit einer Waffe ist genauso gefährlich wie ein Erwachsener.“
„Das stimmt, aber der Einsatz von tödlicher Gewalt ist für einen Cop immer schwierig. Vor allem dann, wenn Kinder im Spiel sind und für die Entscheidung über Leben und Tod nur der Bruchteil einer Sekunde bleibt.“
Sie schluckte den Kloß in ihrem Hals herunter und senkte den Blick auf ihre Hände, mit denen sie das Kissen fest umklammert hielt, damit sie nicht zitterten. „Sie tun so, als wäre es in Ordnung.“
„Vielleicht ist es das nicht“, sagte er. „Aber Sie hatten nur zwei Möglichkeiten, und es war keine leichte Wahl. Das ist manchmal schwer zu akzeptieren, aber es bleibt uns nichts anderes übrig. Wir können es nicht ändern, Erin.“
„Danny ist gelähmt“, sagte sie. „Er wird nie wieder als Polizist arbeiten können. Jedenfalls nicht auf der Straße. Wie konnte ich ihm das nur antun? Und jedes Mal, wenn ich ihn sehe, stellt er sich dieselbe Frage. Natürlich spricht er sie nicht aus. So etwas würde er nie tun. Aber ich kann es ihm ansehen. Genauso wie seiner Frau und den Kindern. Und jedes Mal, wenn ich daran zurückdenke, was in jener Nacht passiert ist, bricht es mir das Herz.“ Mit tränenverschleierten Augen sah sie ihn an. „Nick, ich habe Dannys Leben zerstört.“
10. KAPITEL
Schuldgefühle waren Nick nicht unbekannt. Sie konnten einem das Leben zur Hölle machen. Er hielt sich selbst für einen Experten auf diesem Gebiet. Immerhin lebte er schon seit drei langen Jahren mit seiner Schuld. Er kannte die verheerende Kraft dieser Gefühle, die den Verstand und den Geist attackierten wie ein Krebsgeschwür, das den Körper von innen heraus zerfraß, aus erster Hand.
Dass Erin McNeal die gleiche leidvolle Erfahrung machen musste, weil ein Einsatz unter ihrer Verantwortung missglückt war,
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