Der Bedrohung so nah (German Edition)
Natürlich würde sie nicht einfach dasitzen und abwarten. „Welches Modell?“, fragte er.
„Ein blauer Chevy, 85er-Baujahr.“ Der Mann hielt inne. „Ich kriege den Wagen doch wieder, oder?“
Nick legte auf. Schwer erhob er sich. Draußen donnerte es, und der Regen trommelte gegen die Scheiben.
Sie würde versuchen DiCarlo zu erwischen.
Das konnte er nicht zulassen. Allein hatte sie nicht die geringste Chance gegen einen Mann wie DiCarlo. Er würde nicht tatenlos zusehen, wie die Frau, die er inzwischen mehr als sein eigenes Leben liebte, in den sicheren Tod rannte.
Er warf einen Blick auf die Uhr an der Wand. Viertel vor eins. Frank würde nicht vor einer Stunde da sein, und das FBI würde sogar noch etwas später eintreffen. Wenn er den blauen Wagen finden konnte …
Ohne lange nachzudenken, überprüfte er seine Waffe, schnappte sich seine Autoschlüssel und das Handy und ging zur Tür.
Ein Blitz durchzuckte den Himmel und beleuchtete den Eingang des Kornspeichers, der ungefähr fünfzig Meter entfernt vor ihr lag. Erin bog in einen Schotterweg ein und verlangsamte die Geschwindigkeit. Wie ein weidender Dinosaurier inmitten endloser Maisfelder ragte der monströse Bau vor ihr auf. Vor zehn Minuten hatte der Wetterdienst für die Landkreise westlich von Logan Falls eine Tornadowarnung rausgegeben.
Viel schlimmer kann es nicht mehr werden, dachte Erin und zuckte zusammen, als ein ohrenbetäubender Donnerschlag durch die Nacht hallte. Nur wenige Meter vor dem Speicher brachte sie den Wagen zum Stehen und spähte durch den Eingang, der ihr vorkam wie ein dunkler Schlund. Sie wünschte, sie hätte die Zeit gehabt, einen Plan zu schmieden, doch es half nichts. Der einzige Weg, Stephanies Leben zu retten, war ein Austausch. Egal, von welcher Seite sie es betrachtete, es blieb dabei: DiCarlo wollte sie, nicht Stephanie. Das Mädchen war nur der Köder. Seine Trumpfkarte. Jetzt war Erin am Zug, und sie hatte nicht vor, diese Chance zu vertun.
Sie erschauderte, als die ersten riesigen Regentropfen auf die Windschutzscheibe fielen. Normalerweise hatte sie keine Probleme damit, im Dienst ihre Emotionen aus dem Spiel zu lassen. Doch dieses Mal war es anders. Sie musste immerzu an Stephanie denken – und an Nick. Und daran, wie viel für beide auf dem Spiel stand.
Niemals würde sie damit leben können, wenn dem Mädchen etwas zustieß. Dessen war sie sich so sicher wie der Tatsache, dass DiCarlos Drohungen ernst gemeint waren. Er bluffte nicht. Und wenn sie ihr Leben dafür geben musste: Sie würde Stephanie da rausholen.
Sie lehnte sich über den Sitz, nahm ihren Minirevolver Kaliber .22 und steckte ihn in ihr Knöchelhalfter. Dann überprüfte sie die Trommel ihrer Dienstwaffe, bevor sie sie in den Bund ihrer Jeans steckte. Bestimmt würden DiCarlo oder seine Männer sie entwaffnen, doch vielleicht hatte sie Glück, und ihnen entging die Waffe an ihrem Knöchel. Dann hätte sie wenigstens noch etwas in der Hinterhand, wenn es hart auf hart kam. Und das würde es zweifelsohne, davon ging sie aus.
Der Wind schlug ihr ins Gesicht, wirbelte Staub und Schutt auf. Dicke Regentropfen fielen geräuschvoll auf die Motorhaube und den Boden.
Wieder zuckte ein Blitz am Himmel. Das Herz klopfte Erin bis zum Hals, doch sie nahm all ihren Mut zusammen und ging zum Eingang. Sie wusste, dass sie beobachtet wurde. Sie spürte die Blicke auf sich und das Böse, das sie wie eine dunkle Aura umgab, als ihr plötzlich bewusst wurde, dass sie sterben könnte. Doch sie wusste genauso, dass sie keine andere Wahl hatte, als geradewegs in DiCarlos Falle zu laufen.
Als sie den Eingang erreichte, merkte sie, wie Adrenalin ihre Sinne bereits aufs Äußerste geschärft hatte. Der Wind pfiff durch den Speicher und hallte in langen schrillen Tönen wider. Zu ihrer Linken stand ungefähr ein Dutzend Zweihundertliterfässer, rechts neben ihr im Dunkeln lag das verglaste Büro. Ein Gerüstgang über ihr bot ebenfalls ein ideales Versteck.
Sie atmete heftig, als sie all ihre Kraft zusammennahm, um gegen den herannahenden Flashback anzukämpfen. Ganz ruhig. Einatmen. Ausatmen .
„DiCarlo!“, rief sie.
Zwei Schatten traten aus dem Büro. Ein plötzlicher Adrenalinschub ließ sie automatisch zur Waffe greifen. Jeder Muskel ihres Körpers war zum Reißen gespannt. Als sie den Revolver aus dem Hosenbund zog, stellte sie entsetzt fest, wie stark ihre Hände zitterten. Ganz ruhig. Einatmen. Ausatmen . Sie wiederholte die Worte in ihrem Kopf
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