Der Benedict Clan 05 - Fremder Feind
fragte auch nie, was es mit Chloes morgendlichen Besuchen zu tun hatte. Genauso ignorierte er, dass sie stundenlang Schulbücher las, wenn Ahmad nicht zu Hause war. Und er stellte auch keine Fragen, wer die Besucherinnen waren, die kamen und gingen, die bei Tee und Walnusskuchen im Zimmer der Frauen zusammensaßen und tuschelten. Wenn er keine Einzelheiten über die Aktivitäten seiner Mutter, seiner Frau und seiner Stiefschwester wusste, konnte er stets ruhigen Gewissens behaupten, er habe geglaubt, dass es nur um Klatsch und Tratsch sowie um Frauenthemen ging.
Der Unterricht lief so ab wie üblich. Die jungen Mädchen trafen allein oder zu zweit ein, manche wurden von einem Bruder, einem jüngeren Cousin oder vom Vater zum Haus gebracht, bei anderen kamen auch die Mütter mit, die mit der Gastgeberin Tee tranken, während Chloe den Unterricht leitete. Die Methoden, auf die sie zurückgriff, bestanden vor allem darin, durch Nachsprechen zu lernen, da die mündliche Tradition bei den Hazaristanern besonders ausgeprägt war und Bücher und Unterrichtsmaterialien Seltenheitswert besaßen. Wenn sie unterrichtete, hatte sie stets ein Exemplar des Korans griffbereit. Sollte jemand dazu stoßen, der nicht zu den Sympathisanten der RAWA gehörte, konnte sie sofort aus dem heiligen Buch zitieren.
Die Zeit verging wie im Flug. Der Unterricht konnte gar nicht lange genug dauern, um den Mädchen alles beizubringen, was Chloe für wichtig hielt. Viel zu früh musste sie ihr Schulbuch zuschlagen und sich höflich und überschwänglich von der Frau des Hauses verabschieden, die sehr viel riskierte, indem sie zuließ, dass in ihrem Hinterzimmer dieser Unterricht abgehalten wurde. Chloe würde in Kürze von Ismael und Treena abgeholt werden.
Als sie am Hauseingang auf die beiden traf, bemerkte Chloe durch den Netzeinsatz hindurch, wie die Augen ihrer Schwägerin leuchteten. „Wir haben ihn gesehen, deinen Amerikaner aus dem Stadion", sagte sie, nachdem sie das Haus verlassen hatten. „Er war auf dem Basar."
„Er ist nicht mein Amerikaner", stritt Chloe sofort ab, während sie nach einigen der Einkaufsnetze griff, die Treena trug, in denen sich Melonen und Beutel mit Getreide befanden. „Glaubst du, er hat dich gesehen?"
„Er hat Ismael einen Moment lang angesehen, aber ich weiß nicht, ob er ihn wieder erkannt hat. Von mir hat er überhaupt keine Notiz genommen."
Chloe wurde ein wenig nachdenklich, als sie an der Stimme ihrer Stiefschwester erkannte, dass die sich verletzt fühlte. Es konnte bisweilen schwierig sein, das Gefühl zu ertragen, nicht zur Kenntnis genommen zu werden, wenn man die Burqa trug. Sie reagierte merkwürdig unwillig auf Treenas Vorstellung, ihr Landsmann habe die Absicht gehabt, den Effekt zu verstärken. „In meinem Land wird es als unhöflich angesehen, wenn man einen anderen Menschen anstarrt", sagte sie. „Außerdem wollte der Mann vielleicht nur nicht Gefahr laufen, sich den Zorn deiner Eskorte zuzuziehen."
„Denkst du, er könnte uns wieder erkannt haben?"
„Irgendwie ist es ihm ja auch gelungen, mich gestern in Kashi ausfindig zu machen. Da er von mir nichts sehen konnte, was ihm einen Anhaltspunkt hätte geben können, muss er sich auf Ahmad und Ismael konzentriert haben."
„Aber woher sollte er sie denn kennen?"
„Ich habe keine Ahnung", antwortete sie. Sie wollte lieber nicht darüber nachdenken, da sie fürchtete, die Antwort könnte ihr nicht gefallen. „War er noch auf dem Basar, als ihr von dort weggegangen seid?"
„Ja. Und er machte einen Eindruck, als könnte ihn nicht einmal eine Explosion von der Stelle bewegen."
„Er wird gehen, sobald ihm das Spiel zu langweilig wird."
Treena wandte sich ihr zu. „Er schien sich nicht zu langweilen. Ich würde sagen, dass er verärgert war, nicht gelangweilt."
„Sein Pech", murmelte Chloe zu Treenas Missfallen.
„Bist du sicher, dass du nicht erfahren willst, was er dir zu sagen hat?"
„Ganz sicher." Solange sie es wirklich nicht wusste, gelang es ihr vielleicht, einigermaßen zufrieden mit ihrer Situation zu bleiben.
Ismael hatte ihnen zugehört, während er hinkend vorausgegangen war. Über die Schulter sagte er zu den beiden: „Wollen wir hoffen, dass er seine Bemühungen, mit dir zu sprechen, bald aufgibt, bevor Ahmad die Geduld verliert."
„Glaubst du, jemand wird meinem Bruder sagen, dass der Amerikaner Chloe hierher gefolgt ist?" fragte seine Frau.
„Selbstverständlich."
Der Gedanke sorgte dafür, dass sich
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