Der Benedict Clan 05 - Fremder Feind
bestimmt kein Restaurant mehr geöffnet. Und er zweifelte daran, ob er die in den örtlichen Lokalen servierten Speisen vertragen würde.
Er öffnete die Dose mit dem Hühnchen, fischte ein Stück heraus, legte es auf einen Kräcker und schlang ihn herunter. Während er kaute, schnürte er seine Stiefel auf und streifte sie ab. Als er seine Mahlzeit beendet und eine Flasche lauwarmen Wassers geleert hatte, war er ausgezogen und ging unter die Dusche.
Er war noch nicht müde, und da es keinen Fernseher gab, nahm er sich Ahmads Akte und einige andere Berichte vor, mit denen er sich gut eine Stunde lang beschäftigte. Was er las, waren alles andere als Gutenachtgeschichten. Die Taliban schienen sich an ihrer Schreckensherrschaft zu laben. Dass sie ihre Macht an den Frauen demonstrierten, entsprach nach Wades Gefühl exakt der Mentalität, die mit einer solch menschenverachtenden Einstellung einherging. Das Ganze machte ihn nur noch wütender, weil er so erzogen worden war, dass er das andere Geschlecht zu respektieren hatte.
Als er nach einiger Zeit das Licht ausmachte, konnte er viel besser verstehen, von welchen Gefühlen Chloe Madison angetrieben wurde, da er selbst den Wunsch verspürte, es den Verantwortlichen heimzuzahlen. Wenn es je einen Grund dafür gegeben hätte, dass er sie hier ließ, damit sie weiter mit diesen menschenverachtenden Psychopathen lebte, dann war spätestens jetzt dieser Grund nicht mehr zu rechtfertigen.
Er versank in einen Traum, der so wie immer mit einem Tanz begann.
Es war ein ausschweifendes Botschaftsfest an einem der angenehm kühlen Abende, die für die Wüstenstaaten des Nahen Ostens typisch waren. Eine Band spielte leise Musik, die sich bestens als Untermalung für den Small Talk eignete, der von beiläufigem Kokettieren und politischen Diskussionen bis hin zu weitreichenden Geschäftsabschlüssen und hochkarätigen diplomatischen Initiativen reichte. In dem Raum roch es nach Blumen, amerikanischem Whiskey und köstlich gewürzten Speisen, und auch wenn außer den Mitarbeiterinnen der Botschaft nur wenige Frauen anwesend waren, wetteiferte ihr glitzernder Schmuck mit dem Funkeln der Kronleuchter.
Wade war offiziell nicht damit beauftragt, den Botschafter und dessen Familie sowie das übrige Botschaftspersonal zu beschützen, doch es wurde stets gerne gesehen, wenn er bei einem so förmlichen Ereignis als Verstärkung erschien. Seine Spezialität bestand darin, mit der Umgebung eins und damit praktisch unsichtbar zu werden. Umso mehr überraschte es ihn, dass die Vorzeigeehefrau eines texanischen Ölbarons ihn am Arm packte und mit sich auf die Tanzfläche zog. Sie hatte zu viel Champagner getrunken, vielleicht, um den Schmerz zu betäuben, der hinter ihrem bemühten Lächeln lauerte. Als sie ihm die Arme um den Nacken legte und sich wie eine welke Lilie an ihn drückte, brachte er es nicht übers Herz, sie zurückzuweisen. Zumal er bemerkt hatte, wie angestrengt sie atmete, um ihre Tränen zu unterdrücken. Als er sich während des Tanzes mit ihr drehte, fiel sein Blick auf den Ehemann, der ihnen zusah und nicht glücklich zu sein schien.
Im nächsten Moment fand er sich in einem Gebäude am Rand irgendeines kleinen Dorfs wieder. Es handelte sich um den Unterschlupf von Extremisten, in dem der Vizekonsul festgehalten wurde, den man entführt hatte, nachdem er mit seinem Wagen auf einer einsamen Straße gefahren war, auf der er sich gar nicht hätte befinden dürfen. Die Frau des Ölbarons, die ebenfalls zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen war, saß neben ihm in dem dunklen Gebäude.
Wade war soeben an diesen Ort vorgedrungen und hatte eine Wache am Hintereingang, eine zweite im Korridor ausgeschaltet. Er hörte, dass sich die übrigen Terroristen im vorderen Raum aufhielten und sich lautstark dem Essen widmeten, da Ramadan war und sie den ganzen Tag über gefastet hatten. Ihm blieben exakt drei Minuten - fast schon eine Ewigkeit -, um das entführte Paar zu befreien und durch den Hinterausgang nach draußen zu bringen. Dann würde buchstäblich die Hölle losbrechen, weil der Diplomatie Security Service unter der Führung von Sicherheitschef Nat Hedley das Schlangennest ausheben würde.
Wade bewegte sich ohne einen Laut durch den fensterlosen, fast würfelförmigen Raum, in dem der Vizekonsul und die Frau Rücken an Rücken auf dem Boden lagen. Oberste Priorität hatte der Stellvertreter des Botschafters, ein schlaksiger Yale-Ab- solvent, der ständig einen
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