Der Benedict Clan 05 - Fremder Feind
Außerdem gab es Hinweise auf seine Verbindung zu einer Terrororganisation, die während seiner Zeit in Afghanistan ihren Anfang genommen haben musste. Chloes Stiefbruder war also nicht nur zu einem gefährlichen Fanatiker geworden, er hatte auch einen Platz entdeckt, an dem er diese Neigung ausleben konnte.
Wie viel Chloe Madison über diese Dinge wusste oder vermutete, konnte Wade nicht sagen. Sie war unglaublich verschlossen, gab nichts preis und ließ niemanden an sich heran. Sie kannte sehr wohl die Risiken, die mit dem heimlichen Unterricht verbunden waren, doch sie hatte sich längst so sehr an sie gewöhnt, dass sie sich von ihnen nicht mehr abschrecken ließ. Johns Ausführungen zufolge war sie schon immer so couragiert gewesen, und offenbar hatte sich daran nichts geändert. Der Benedict in ihm verbeugte sich vor so viel Mut und auch vor ihrer Loyalität gegenüber ihren Freunden sowie vor ihrem Bemühen, deren Lage zu verbessern. Trotzdem machte es ihn rasend, dass sie für kein vernünftiges Argument zugänglich war.
Ihm gefiel diese Verzögerung nicht im Geringsten. Sie erinnerte ihn viel zu sehr an eine andere Situation, in der er hatte warten müssen, eine Geiselnahme, die eine andere Frau betraf. Je eher das hier vorüber war, umso besser. Außerdem waren weitere Personen in diese Operation verwickelt, und einige von denen hatten Wichtigeres zu tun, als darauf zu warten, dass Chloe eine Entscheidung traf.
Wade war fast in Höhe eines Eingangs zu einem Geschäft, als er eine Frau bemerkte. Sie eilte zu ihm wie ein Geist, der sich ein Bettlaken übergeworfen hatte. Eine Hand war in traditioneller Bettelhaltung ausgestreckt. Sie blieb nicht stehen, als sie sich ihm näherte, sondern rempelte ihn an, und mit ihrer anderen Hand berührte sie ihn in der Lendengegend. Es war nicht das erste Mal, dass sich ihm in einer fremden Stadt eine Prostituierte näherte, aber dies war wohl die sonderbarste Art und Weise. Selbst wenn es seine Art gewesen wäre, für Sex zu bezahlen, konnte er sich einfach nicht vorstellen, das Angebot einer Frau anzunehmen, deren Gesicht er nicht sehen konnte und deren Körper von Kopf bis Fuß bedeckt war.
„Nein", sagte er deutlich.
Die Frau schnappte nach Luft und zog sich sofort in den Schatten zurück. Ihre Bewegung war so heftig, dass Wade sich ein wenig schuldig fühlte. Er hatte nicht bedrohlich auf sie wirken wollen. Prostitution war verboten, das wusste er, doch wenn Angst davor, zu direkt zu sein, solches Entsetzen auslösen konnte, dann wollte er lieber nicht darüber nachdenken, welche Strafe eine Frau erwartete, wenn man sie erwischte, und welche Verzweiflung sie empfinden musste, um sich nachts aus dem Haus zu wagen.
Der Zwischenfall erinnerte ihn wieder an Chloes Reaktion auf seinen Besuch. Wahrscheinlich hatte sie Recht damit, dass es für sie gefährlich war, wenn er mit ihr Kontakt aufnahm, aber es ging einfach nicht anders. Hier in Hazaristan gab es nur wenige Gelegenheiten für einen Mann, mit einer Frau ins Gespräch zu kommen. Also war er gezwungen, Risiken einzugehen. Er hatte sie mit seiner Unterstellung, sie sei wohl mit ihrer Quasi-Gefangenschaft einverstanden, zweifellos schroffer behandelt, als es eigentlich angemessen gewesen wäre. Doch er hatte darauf gehofft, sie zu provozieren und sie zu dem Eingeständnis zu bewegen, dass sie nach Hause zurückkehren wollte. Der Trick hatte nicht einmal annähernd funktioniert, und er bewunderte ihre Standhaftigkeit.
Fasziniert hatte er beobachtet, wie stolz sie durch den Garten spaziert war, fast so, als weigere sie sich, ihre missliche Lage zur Kenntnis zu nehmen. Es war ihm allerdings nicht leicht gefallen, mit einer Frau zu reden, deren Gesicht er nicht sehen konnte. Noch immer wusste er nicht, wie sie wirklich aussah. Sie hatte dafür gesorgt, als wäre das Verhüllen des Gesichts nicht eine von den tausend Regeln, die sie zu befolgen hatte, sondern ein Instinkt, der ihrem eigenen Schutz diente.
Er hätte viel dafür gegeben, sehen zu können, was aus dem jungen Mädchen mit den leuchtenden Augen und dem strahlenden Lächeln geworden war, das er von den Fotos kannte, die John ihm gezeigt hatte. Wade war keineswegs dieser Typ hoffnungsloser Kerl, dem in romantischen Filmen das Foto einer Frau genügte, um sich Hals über Kopf in sie zu verlieben. Doch Chloe war ihm stets wie ein Mädchen vorgekommen, aus dem einmal eine ganz besondere Frau werden würde. Der Wunsch nagte an ihm herauszufinden, ob er damit
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