Der Berg Der Abenteuer
Schreck. Ein Gesicht blickte auf sie herab — und dieses Gesicht war schwarz.
Von Entsetzen gelähmt, den Teller noch in der Hand, unfähig, einen Ton hervorzubringen, starrte Lucy in den Baum. Nun bewegten sich die Zweige ein wenig, und über dem Gesicht wurden schwarze wollige Haare sichtbar. Das war ja ein Neger! Aber was tat er da oben? Lucy wußte nicht, was sie machen sollte.
Das schwarze Gesicht blickte eine Weile unverwandt auf das Mädchen am Bach. Dann verzogen sich die dik-ken Lippen zu einem freundlichen Grinsen. Schneeweiße Zähne kamen zum Vorschein, der wollige Kopf nickte wie zum Gruß. Schließlich tauchte ein schwarzer Finger aus den Blättern auf und legte sich auf die dicken Lippen.
»Ganz still sein, kleines Fräulein«, sagte der Neger in heiserem Flüsterton. »Du nicht sagen, daß ich hier. Ich armer Nigger, verlassen und allein.«
Lucy wollte ihren Ohren nicht trauen. Sie rief nach Jack, doch die Kinder hörten sie nicht. Der Schwarze runzelte die Stirn und schüttelte heftig den Kopf. »Kleines Fräulein von hier fortgehen«, flüsterte er. »Dies ist sehr schlechter Berg, voll von schlechte Männer. Sie werden dich fangen, kleines Fräulein.«
»Was machen Sie denn in dem Baum?« fragte Lucy mit zitternder Stimme. »Und woher wissen Sie das alles?«
»Ich war in schlechtem Berg, kleines Fräulein. Ich lief fort. Armer Nigger, weiß nicht wohin, hat Angst vor großen Hunden. Er lebt in großem Baum. Du schnell fortgehen, kleines Fräulein.«
Lucy wußte nicht, was sie dazu sagen sollte. War denn so etwas möglich? Da stand sie neben dem Bach, in dem sie noch vor kurzem mit den anderen Kindern gebadet hatte, und unterhielt sich mit einem schwarzen Mann, der auf einem Baum wohnte. Plötzlich drehte sie sich mit einem Ruck um und lief davon, so schnell sie konnte.
Schreckensbleich und außer Atem kam sie bei den anderen an.
»Was ist los?« rief Jack ihr entgegen.
Keuchend deutete Lucy zum Bach hinunter. »Schwarzer Mann«, stieß sie hervor. »Schwarz!«
Philipp sprang auf. »Schwarz? Das sagte David auch.
Beruhige dich, Lucy. Erzähle uns rasch, was du gesehen hast.«
Lucy berichtete in abgerissenen Sätzen. Die andern hörten erstaunt zu. Ein schwarzer Mann, der sich vor den Hunden in einem Baum versteckte. Der gesagt hatte, der Berg wäre schlecht, »voll von schlechte Männer«. Was sollte das alles bedeuten?
»Kommt, wir wollen ihn selber fragen«, rief Jack. »Hier geht irgend etwas Geheimnisvolles vor. Wir müssen der Sache auf den Grund gehen. Dann können wir Bill gleich alles berichten, wenn er kommt.«
Sie liefen zum Bach hinunter und spähten in den Baum. Aber dort war niemand mehr zu sehen. Der Neger war verschwunden.
»Verflixt!« rief Philipp enttäuscht. »Als Lucy fortlief, bekam er wohl Angst, verraten zu werden, und hat sich schleunigst aus dem Staub gemacht.«
»Es ist eigentlich sonderbar, daß die Hunde ihn in dieser Nacht nicht gefunden haben — und in der Nacht davor auch nicht«, wunderte sich Jack.
Philipp blickte nachdenklich auf den Bach. »Der Schwarze war schlau«, sagte er dann. »Du weißt doch, daß Hunde eine Spur im Wasser verlieren. Der Mann ist wahrscheinlich ein Stück durch den Bach gewatet und dann direkt von dort aus auf den Baum geklettert. So entwischte er den Hunden. Der arme Kerl wird nicht schlecht gezittert haben, als er sie hier unten herumschnüffeln sah.«
»Glaubst du, daß sie ihn jagten?« fragte Lucy entsetzt.
»Wie furchtbar das sein muß! Ich würde vor Angst um-kommen, wenn ein Rudel Schäferhunde hinter mir her wäre.«
Die Kinder suchten noch eine Weile nach dem Schwarzen, fanden ihn jedoch nicht. Wovon mochte er nur leben? Hier im Gebirge fand er höchstens Blaubeeren und wilde Himbeeren. Schließlich gaben sie das Suchen auf.
»Glaubt ihr wirklich, daß Männer in dem Berg sind?« fragte Dina zweifelnd.
»Es hört sich wie ein Märchen an«, gab Jack zu. »Aber denk doch nur daran, wie der Berg gestern gerumpelt und gezittert hat. Vielleicht arbeiten dort Männer unter der Er-de.«
»Du meinst als Bergarbeiter in einem Bergwerk?«
»Ich weiß auch nicht recht. Es wäre ja möglich, obwohl ich mir nicht gut vorstellen kann, was sie in dem Berg suchen. Und wie sollten sie die nötigen Maschinen trans-portieren? Dazu müßte eine Straße herführen. Und wenn eine Straße da wäre, könnte die Sache wieder nicht geheim bleiben.«
»Das ist alles sehr rätselhaft«, bemerkte Dina nachdenklich.
Lucy seufzte.
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