Der Berg der Sehnsucht: Big Sky Mountain (German Edition)
anderen aus ihren Boxen und auf die Weide bringen. Bis auf Remington. Er hörte, wie der Motor von Opals Wagen dröhnend zum Leben erwachte. Dann fuhr sie mit durchdrehenden Rädern los, dass er Kies nur so aufspritzte.
Egal, was Opal tat, sie war immer mit Eifer und Leidenschaft bei der Sache.
Amüsiert holte er sein Zaumzeug aus dem Materialraum und ging zu dem Wallach, der geduldig die Reste seines Frühstücks vertilgte.
Hutch musste nur die Boxentür öffnen, da kam Remington auch schon heraus. Er kannte die Abläufe ganz genau, und jetzt konnte er es auf einmal kaum erwarten, endlich gesattelt zu werden, um die Enge des Stalls gegen das weite, offene Land einzutauschen.
Fünf Minuten später saß Hutch auf und verließ den Stall in Richtung Weiden. Am Anfang von Hutchs liebstem Trampelpfad wurde das Tier langsamer, da es nun bergauf ging und sich unter seinen Hufen immer wieder kleine Steine befanden, die ein vorsichtiges Vorankommen erforderlich machten.
Hutch beugte sich weit über den Hals seines Pferds, als es unter den tief hängenden Ästen von Eichen und Ahornbäumen hindurchging, die nach Ross und Reiter zu greifen schienen.
Der Berg stellte für Hutch Carmody vieles dar, und so weit er zurückdenken konnte, war er immer dann hergekommen, wenn es einen Grund zur Freude oder zur Trauer gab … oder wenn er einfach nur ganz in Ruhe nachdenken wollte.
Von einer bestimmten Stelle aus konnte er genau die Welt sehen, die ihm von allem am meisten bedeutete: die weitläufige Ranch mit den Viehherden und den Kühen, die Wasserläufe, die das Land durchzogen, und in der Ferne das Städtchen Parable.
Nach einem anstrengenden Anstieg, der eine Viertelstunde dauerte, erreichten er und Remington endlich die kleine Lichtung mit einer Bergwiese, die für ihn das Herz der Whisper-Creek-Ranch darstellte.
Hier hatte er mit zwölf Jahren um seine tote Mutter geweint.
Hier hatte er dem Zorn auf seinen Vater freien Lauf gelassen, wenn er so wütend auf ihn gewesen war, dass ihn nichts in der Schule, in seinem Zimmer oder in der Scheune hatte halten können.
Und hier hatten er und Kendra sich zum ersten Mal geliebt - und auch zum letzten Mal.
Seufzend saß er ab und ließ Remington in Ruhe grasen. Der hüfthohe Steinhaufen, der mit seinen gut zwei Metern Länge an ein Grab erinnerte, war natürlich immer noch da. Ein Fremder würde das Ding wohl für einen Opferaltar eines unbekannten Gottes halten.
Opal würde eine solche Einstellung ganz sicher nicht gutheißen, ging es ihm durch den Kopf. Es war ein Grund mehr, ihn nicht von ihrer Gebetsliste zu streichen.
Den Platz auf dieser Liste hatte er sich zweifellos mehr als verdient.
Nachdem er einen Moment lang innegehalten hatte, um sich zu sammeln, legte er die Hände auf die kühlen, staubigen Steine und tauchte in seine Erinnerungen ein. Jeder dieser Steine stand für eine bestimmte Sache, die er John Carmody hätte sagen sollen, die er ihm aber nie gesagt hatte, oder für eine Sache, die er besser unausgesprochen gelassen hätte.
Hoch über ihm wehte der Wind durch die Äste der Ponderosa-Kiefern und der wenigen Ahornbäume und Eichen, die hier oben hatten Wurzeln schlagen können, lange bevor er auf die Welt gekommen war. Remington wieherte zufrieden, sein Zaumzeug klimperte leise.
Ein Gefühl von Frieden senkte sich auf Hutch herab.
„Es war schwierig, dich zu lieben, alter Herr“, sagte er sehr leise. John Carmody lag nicht unter diesen Steinen begraben, er war auf dem Pioneer Cemetery beigesetzt worden, aber hierher kam Hutch, wenn er eine Verbindung zu seinem Vater suchte, ob aus Wut oder Trauer heraus.
Die Wut war weitestgehend verflogen, nachdem er nach Johns Tod oft genug diese Steine berührt hatte, aber die Trauer war geblieben, auch wenn er sie jetzt besser im Griff hatte. Sie war so sehr ein Teil von ihm wie das Land und der grenzenlose blaue Himmel.
Das, so fand er, war auch richtig, denn genau betrachtet war das Leben eine Mischung aus guten und schlechten Dingen und allem, was sich irgendwo dazwischen bewegte. Er wandte dem Steinhaufen den Rücken zu, verschränkte die Arme und nahm die grandiose Aussicht in sich auf, als wäre sie ein Atemzug für die Seele.
In der Ferne konnte er die Spitzen der verschiedenen Kirchtürme von Parable sehen, dort war das bescheidene Kuppeldach des Gerichtsgebäudes, auf dem die Fahne im Wind flatterte. Da war der Fluss, von dem so viele Nebenarme abzweigten und das Land durchzogen wie die Finger einer
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