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Der Bernstein-Mensch

Der Bernstein-Mensch

Titel: Der Bernstein-Mensch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gregory Benford & Gordon Eklund
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täglichen Fahrten zu dem Raumschiff im Orbit zu begleiten. Seither hatte er sie nicht einmal zu Gesicht bekommen, und sie hatten nur ein einziges Mal miteinander telefoniert. Und jetzt war sie auch nicht hier. Das war merkwürdig, denn es war Mittagszeit, und sie aß stets hier mit den anderen.
    Reynolds hatte in der Cafeteria einen Tisch für sich. Das Essen war miserabel, aber das war es immer gewesen, und er hatte sich mittlerweile daran gewöhnt. Was ihn allerdings beunruhigte, jetzt, da er darüber nachdachte, war Kellys Abwesenheit. Er selbst Heß das Mittagessen meistens aus. Er versuchte sich zu erinnern, wann er zum letzten Mal hiergewesen war. Es war mehr als eine Woche – nein, mehr als zehn Tage her. Die Erkenntnis erfüllte ihn mit Unbehagen.
    Er beugte sich vor und versuchte, die Aufmerksamkeit eines Mädchens am Nebentisch zu erregen. Er kannte sie flüchtig; ihr Vater war ein hohes Tier bei der NASA gewesen, als er noch ein Star-Astronaut war. An den Namen des Mannes konnte er sich nicht mehr erinnern. Die Tochter hatte ein süßes kleines Gesicht und einen kurvenreichen Körper, der etwa zwei Nummern zu groß für ihren Kopf war. Außerdem hatte sie ein Hirn, das für die meisten Dinge zu beschränkt war. Sie arbeitete in der Verwaltung, und das bedeutete, daß sie mit den meisten Männern auf der Basis irgendwann einmal geschlafen hatte.
    „Haben Sie Kelly gesehen?“ fragte er sie.
    „Muß in ihrem Büro sein.“
    „Nein, ich meine, wann haben Sie sie zum letzten Mal hier gesehen?“
    „Hier drin? Oh …“ Das Mädchen dachte einen Moment lang nach. „Ißt sie nicht mit den anderen Chefs?“
    Kelly aß niemals mit den anderen Chefs. Sie aß immer in der Caféteria – aus Gründen der Moral –, und die Tatsache, daß das Mädchen sich nicht erinnerte, sie gesehen zu haben, bedeutete, daß es mindestens ein paar Tage her sein mußte, seit Kelly das letzte Mal aufgetreten war. Reynolds ließ sein Essen stehen und stand auf. Er nickte dem Mädchen höflich zu und eilte davon.
    Der Weg war nicht weit, aber er rannte. Er hatte nicht vor, Kelly aufzusuchen. Er wußte, daß das nutzlos sein würde. Statt dessen wollte er zu John Sims. Mit zweiundfünfzig war Sims der Zweitälteste Mann auf der Basis. Wie Reynolds war er ein ehemaliger Astronaut. 1999, als Reynolds, damals noch ein berühmter Mann, in Sào Paulo lebte (das erste von drei Malen), hatte Sims die zweite (und die erste erfolgrei che) Marsexpedition geleitet.
    Sims und seine Mannschaft waren in einem beschleunigten, energieaufwendigen Bogen zum Mars geflogen, sorgfältig beobachtet von Psychoanalytikern, die das Höchstmaß an verträglicher Isolation herausfanden und ihre aufknospenden Neurosen glattbügelten. Nach ihrer Ankunft und in guter Gemütsverfassung hatten sie damit begonnen, die Wahrheit über das marsianische Leben herauszufinden – nämlich, daß einheimische Lebensformen existiert hatten, inzwischen aber von virulenten Erdmikroben so weit verändert worden waren, daß man ihre wahre Natur nie mehr würde in Erfahrung bringen können. Keine noch so umfangreiche chemische Analyse konnte die Wolke der Kontamination durchdringen und einen Blick auf die Vergangenheit ermöglichen.
    Diese endgültige, demütigende Antwort war zehn Jahre später gekommen, aber für ein paar kurze Monate war Sims ein berühmter Mann gewesen. Dennoch, er hatte nicht mehr erreicht als man naturgemäß erwartet hatte; niemals hatte er dem Tod ins Auge gesehen. Reynolds dagegen hatte elendiglich versagt. Drei seiner Begleiter waren auf dem Mars gestorben. Es war ihm nicht gelungen, die sowjetische Kontamination zu entdecken.
    Trotzdem hatte man ihn – Reynolds, den Versager – als den eigentlichen Helden bejubelt. Sims hatte seine vorprogrammierte Aufgabe erfüllt und sonst nichts. Während Reynolds isoliert in Sào Paulo saß und Astronomie studierte, fand er plötzlich seinen Ruhm durch die Sims-Expedition noch vergrößert. Oft, wenn er einen Raum betrat, herrschte plötzlich erwartungsvolles Schweigen; das machte ihn jedesmal nervös. Er bekam mehr sorgfältig formulierte Einladungen als er auch nur beantworten konnte. (Hatte seine Abgeschiedenheit dem Ruhm Nahrung gegeben? Er wußte es nicht. Nachträgliche Überlegungen legten sich wie ein Film über die Vergangenheit.)
    Und vielleicht bin ich noch einmal ein Held, dachte er, als er an die Metalltür von Sims’ Büro klopfte. Vielleicht las man in der Welt dort unten wieder jeden Tag von

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