Der Bernstein-Mensch
ihre Größe und Abmessungen. Er kannte Sonnenflecken, Solarwinde und Solaratmosphäre. Aber das war alles. War die Sonne ein wohlwollender Stern? War sie ständig zornig? Verehrte die Menschheit sie mit der angemessenen Liebe und Hingabe? „Das ist sein volkstümlicher Name. In der alten Sprache, welche die Wissenschaft verwendet, nennt man ihn ‚Sol’. Er liegt etwa acht …“
„Oh“, sagte Jonathon, „alles das wissen wir bereits. Aber sein Verhalten. Seine Launen, die normalen und die abnormalen. Sie spielen mit uns, Bradley Reynolds. Sie scherzen. Wir verstehen, daß es Sie amüsiert, aber bitte – wir sind einfache Seelen, und wir haben eine weite Reise hinter uns. Diese anderen Dinge müssen wir wissen, bevor wir es wagen, uns dem Stern persönlich zu nahem. Können Sie uns sagen, in welcher Weise er ihr persönliches Leben am häufigsten beeinflußt hat? Das würde uns schon sehr viel weiter helfen.“
2
Obgleich sein Zimmer völlig im Dunkeln lag, machte sich Reynolds beim Eintreten nicht die Mühe, das Licht einzuschalten. Er kannte jeden Zoll dieses Zimmers, kannte es im Dunkeln so gut wie im Hellen. In den letzten vier Jahren hatte er durchschnittlich zwölf Stunden täglich hier verbracht. Er kannte die vier Wände, den Schreibtisch, das Bett, die Regale, die Bücher, er kannte sie besser, als er jemals einen anderen Menschen gekannt hatte. Er erreichte das Klappbett, ohne einmal mit dem Fuß irgendwo anzustoßen oder über ein offenes Buch zu fallen oder über eine ausgebreitete Karte zu stolpern, und setzte sich darauf. Er legte die Hände auf sein Gesicht und spürte die Falten auf seiner Stirn wie große, breite Striemen. Es gab ein Spiel, das er gelegentlich mit diesen Falten spielte, wenn er allein war. Er tat dann so, als ob jede von ihnen ein Ereignis, eine Facette seines Lebens repräsentierte. Diese hier, die große über seiner linken Augenbraue – das war der Mars. Und die hier, fast schon an seinem rechten Ohr – das war ein Mädchen namens Melissa, das er damals in den achtziger Jahren gekannt hatte. Aber jetzt war er nicht in der richtigen Stimmung für dieses Spiel. Er ließ die Hände sinken. Im Grunde wußte er genau, was die Falten in Wirklichkeit waren: das Alter, schlicht, einfach und ehrlich – das Alter. Keine von ihnen bedeutete etwas ohne die anderen. Sie repräsentierten unpersönliche und unvermeidliche Erosion. Sie waren ein äußerlicher Reflex des Todes, der im Innern vonstatten ging.
Dennoch war er froh, wieder hier in diesem Zimmer zu sein. Es war ihm nie bewußt gewesen, wie überaus wichtig diese vertraute Umgebung für seinen Gemütszustand war, bis man ihn ihrer für eine Weile beraubt hatte. In dem fremden Raumschiff war es so schlimm nicht gewesen. Dort war die Zeit schnell vergangen; man hatte gar nicht erst zugelassen, daß Heimweh in ihm aufsteigen konnte. Danach erst war es schlimm geworden. Mit Kelly und den anderen in ihrem dumpfen, häßlichen, unpersönlichen Loch von einem Büro. Das erst waren wirklich unerträgliche Stunden gewesen.
Aber jetzt war er zu Hause, und er würde erst wieder von hier weggehen müssen, wenn sie es sagten. Man hatte ihn zum offiziellen Abgesandten für die Aliens ernannt, aber er machte sich nicht eine Sekunde lang etwas vor. Er hatte diese Ernennung nur bekommen, weil Jonathon sich geweigert hatte, mit irgend jemand anderem zusammenzutreffen. Nicht weil irgend jemand ihn mochte oder respektierte oder ihn für kompetent genug hielt, diesen Auftrag zu erfüllen. Er war anders als sie, und das war alles. Als sie noch Kinder waren, hatten sie sein Gesicht jede Woche in den alten Fernsehprogrammen gesehen, Abend für Abend. Kelly hätte es
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