Der Bernstein-Mensch
Mundwinkeln. „Ein ‚Pol-Sommer’ muß das sein, was die Erde hat.“
„Oh“, sagte der Mann kläglich.
„Sie haben den ‚Groß-Sommer’ ausgelassen, meine Liebe“, sagte Reynolds mit einem schmalen Lächeln.
„Was ist das?“ fragte Kelly vorsichtig.
„Wenn der ‚Pol-Sommer’ mit dem ‚Bahn-Sommer’ zusammenfällt, was er ja irgendwann immer wieder tut.“
„Wegen der Ellipse“, setzte Kelly hinzu.
„Genau.“ Reynolds schürzte die Lippen.
„Was gibt es sonst noch?“ fragte Kelly.
„Aus Jonathons Worten entnehme ich, daß die Axialneigung seiner Welt ihre Richtung ändert – vorwärts –, und zwar rapide.“
„Und?“
„So etwas würde die Jahreszeiten noch verstärken. Ich möchte nicht dabei sein, wenn das geschieht. Offenbar möchte Jonathons Rasse das auch nicht.“
„Wie vermeiden sie das?“ fragte Kelly aufmerksam.
„Sie wandern. Auf der einen Hemisphäre herrscht ein halbwegs erträglicher Sommer, während man auf der anderen bei lebendigem Leibe gebraten wird. Also gehen sie auf die erste. Die ganze Rasse.“
„Nomaden – eine ganze Kultur, mit einem Rucksack geboren“, sagte Kelly gedankenverloren. Reynolds hob eine Augenbraue. Es war das erste Mal, daß er etwas von ihr hörte, das nicht knapp, effektiv und uninteressant war.
„Ich glaube, aus diesem Grunde züchten sie Weidevieh. Um es leichter, ja sogar notwendig zu machen, in Bewegung zu bleiben. Ein ‚Groß-Sommer’ läßt die ganze Vegetation verdorren; ein ‚Groß-Winter’ – die muß es ja auch geben – läßt einen ganzen Kontinent zu Eis gefrieren.“
„Mein Gott“, sagte Kelly leise.
„Jonathon sprach von ungeheuren Stürmen, von Wind, der ihn zu Boden werfen konnte, von Sand, der ihn über Nacht in den Dünen begrub. Die drastischen Klimaveränderungen müssen Hurrikans und Tornados zur Folge haben.“
„Durch die sie hindurchwandern müssen“, meinte Kelly. Reynolds merkte, daß es seltsam still im Raum war.
„Es scheint, daß Jonathon auf einem dieser Trecks geboren ist. Sie haben nicht viel Schutz, weil die Felsen durch die Erosion von Winden und Wintern verschwunden sind. In einer solchen Umgebung muß es schwierig sein, irgendeine Technologie zu entwickeln. Da ist es, denke ich, unvermeidlich, daß sie zum Glauben an die Astrologie kamen.“
„Was?“ fragte Kelly überrascht.
„Natürlich.“ Reynolds sah sie mit unbewegtem Gesicht an. „Wie soll ich es sonst nennen? Wenn so viel davon abhängt, daß sie die Sterne richtig lesen, um die genaue Jahreszeit zu kennen und zu wissen, wann der nächste ‚Groß-Sommer’ kommt, könnte es da einen anderen Glauben für sie geben? Astrologie mußte die einzige, die unanzweifelbare Religion sein – denn sie funktionierte!“ Reynolds lächelte bei sich, als er sich eine Herde von atheistischen Giraffen vorstellte, die sich verloren durch einen Sandsturm kämpften.
„Ich verstehe“, sagte Kelly, offensichtlich ratlos. Die Männer standen hilflos herum; sie wußten nicht, was sie angesichts eines solchen Bündels von unwahrscheinlichen Ideen noch sagen sollten. Reynolds spürte Freude in sich aufsteigen. Eine verlorene Fähigkeit seiner Jugend war zurückgekommen: sich als den Mittelpunkt der Dinge zu sehen, als den einzigen Schauspieler auf einer Bühne, der sich aus eigenem Antrieb bewegte, seinen eigenen, ungeschriebenen Text sprach. So fühlt sich die Welt an, wenn du gewinnst, dachte er. Das war es, was er verloren hatte, was der Mars ihm genommen hatte, während der langen Heimreise mit dem halb wahnsinnigen Paul Smith, in tiefster Stille und äußerster Einsamkeit. Da hatte er sich geprüft und einen inneren Kern gefunden, war zu dem Glauben gekommen, er brauche die Menschen
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