Der Bernstein-Mensch
endlose Weite, die die häßlichen, tastenden Hände des Menschen nicht mehr erreichen konnten. Dorthin war Reynolds jetzt unterwegs. Hinauf. Hinaus. In die Leere. Er konnte es nicht abwarten abzureisen.
Die Stimme des Piloten drang durch sein Helmradio leise an sein Ohr, ein sanftes Gemurmel, nicht laut genug, daß er verstanden hätte, was der Mann sagte. Der Pilot sprach mit sich selbst, während er arbeitete, und das Summen seiner Stimme diente ihm als Wegweiser für seine Gedanken, damit seine Konzentration nicht nachließ. Er war ein junger Mann, Mitte zwanzig, wahrscheinlich eine Leihgabe der Air Force – ein Leutnant oder allenfalls ein Captain. Er war kaum alt genug, um sich an die Zeit zu erinnern, da der Weltraum wirklich noch eine Grenze war. Die Menschheit hatte beschlossen, sich hinauszuwagen, und Reynolds war einer der Auserwählten gewesen, die die Riesenschritte vollziehen sollten, aber viel Zeit war vergangen: Was vor zwanzig Jahren riesige Schritte gewesen waren, das waren jetzt nur noch Abdrücke im Staub der Jahrhunderte, und der Mensch kehrte zurück. Von seinem Sitz aus konnte Reynolds draußen exakt fünfzig Prozent des amerikanischen Raumfahrtprogrammes sehen: die hochgewölbte Blase der Mondbasis. Die andere Hälfte war das Space Lab im Orbit der Erde selbst, ein verwittertes Relikt aus den expansiven siebziger Jahren. Ein Stück hinter dem nahe gelegenen Horizont – vielleicht hundert Meilen entfernt – hatte es einmal eine zweite Blase gegeben, aber die war jetzt verschwunden. Die tapferen Männer, die dort gelebt und gearbeitet hatten, gestorben oder davongekommen waren – auch sie waren alle fort. Wohin? Die Russen betrieben immer noch eine Raumstation im Orbit, und ein paar der früheren Mondkolonisten waren zweifellos dort, aber wo war der Rest? In Sibirien? Ob sie jetzt dort arbeiteten? Hatten die Russen nicht entschieden, daß Sibirien, das alte gitterlose Gefängnisland der Zaren und der frühen Kommunisten, als Grenzland praktischer sei als der Mond?
Und hatten sie nicht vielleicht recht? Dieser Gedanke behagte Reynolds nicht, denn er hatte sein Leben dieser Sache gewidmet – dem Mond und der endlosen Leere dahinter. Aber wenn er, wie jetzt, durch das künstliche Fenster seines Anzuges spähte und die kahle Blase der Basis sah, die am Rande dieser toten Welt hing wie eine Warze im Gesicht eines alten Weibes und überaus verwundbar, dann fiel es ihm schwer, einen Sinn darin zu sehen. Er war alt genug, um sich daran zu erinnern, wie ihn der Geist der Eroberung zum ersten Mal berührt hatte. Als Schuljunge hatte er einen Film über die Erstbesteigung des Mount Everest gesehen – das war 1956 oder 1957 gewesen –, und als er diesen Film sah, die Schatten der bleichen Bergsteiger, wie sie sich an den Rand des weißen Gottes klammerten, da hatte er gewußt, daß es das war, was er werden wollte. Und man hatte ihn nie eines anderen belehrt – doch als er endlich alt genug war, waren alle Berge längst erobert gewesen. Und so war er Astronom geworden, und wenn er schon nichts anderes zu tun vermochte, so konnte er doch wenigstens hinaus auf die fernen, leuchtenden Gipfel in der Weite blicken; und von dort aus hatte er sein Trachten in den Weltraum gerichtet. So war er zum Mars gekommen und berühmt geworden – aber der Ruhm hatte ihn nach innen gekehrt, und so wäre er ohne seine strahlende Vergangenheit jetzt nur einer von jenen zahllosen, anonymen alten Männern gewesen, die verstreut in den Städten der Welt leben, in identischen, schmucklosen Bücherzimmern, und täglich in miesen Restaurants essen, in Gedanken immer Milliarden von Meilen weit fort von den toten Hülsen ihrer Körper.
„Wir
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