Der Bernstein-Mensch
erinnerte sich an das, was er gelernt hatte, und schloß ebenfalls die Augen.
Und hielt sie geschlossen. In der Dunkelheit verging die Zeit schneller, als es den Anschein hatte, aber er war sicher, daß fünf Minuten verstrichen.
Dann begann der Alien zu sprechen. Nein – er sprach nicht. Er sang einfach, seine Stimme vibrierte mit den hohen, suchenden Klängen einer gut gestimmten Violine, auf und ab über die Tonleiter, ein angenehmer Ton, beruhigend und kühl. Reynolds versuchte verzweifelt, sich auf das Lied zu konzentrieren und die Existenz jedes anderen Gefühls zu ignorieren, nichts und niemanden zur Kenntnis zu nehmen – nur Vergnan. Er ignorierte den Geschmack und den Geruch der Luft und das ferne Stampfen der Schiffsmaschinen. Der Alien sang erst tiefer und klarer, und dann wieder stieg seine Stimme höher und höher und wandte sich jetzt den Sternen zu. Jonathon hatte auch gesungen, aber niemals so. Wenn Jonathon sang, war seine Stimme in ängstlichem Suchen davongejagt, wild umherhetzend und vergebens nach einem Ziel forschend. Vergnan sang ohne einen Zweifel. Er – es –, er war sicher. Reynolds spürte die überwältigende Männlichkeit dieses Wesens, seine patriarchische Kraft und Würde. Kein Zweifel, kein Wanken lag in seiner Stimme und in seinem Lied. Er wußte stets genau, wohin er sich richtete.
Hatte er etwas gefühlt? Reynolds wußte es nicht. Wenn ja, was? Nein, nein, dachte er und konzentrierte sich noch stärker auf die Stimme, so tief, daß eine logische Gedankenfolge nicht mehr möglich war. Innerlich fühlte er sich stark, lebendig, erneuert, wiedergeboren. Ich bin ein neuer Mensch. Reynolds ist tot. Er ist jemand anders. Die Gedanken kamen ihm wie geflüsterte Worte von einem anderen. Geh, Reynolds. Flieg. Geh fort. Flieg.
Dann bemerkte er, daß er selber sang. Er konnte Vergnan nicht imitieren, denn dafür war seine Stimme zu fremd, aber er versuchte es und hörte, wie seine eigene Stimme der anderen beängstigend nahe kam, in deren beständigen Tönen beinahe versank und von ihr aufgesogen wurde. Die beiden Stimmen vermischten sich plötzlich, wurden eins miteinander … verschmolzen … und diese eine Stimme stieg immer höher, verharrte und stieg weiter, höher und weiter hinaus – weiter und tiefer.
Dann fühlte er es. Reynolds. Und er wußte, was es war.
Die Sonne.
Älter als die ganze Erde. Ein Wesen, viel größer und unermeßlicher, machtvoller und weiser. Gottheit als Kugel aus Hitze und Energie.
Reynolds sprach mit den Sternen.
Er begriff es, und die Vorstellung ließ ihn schaudern. Voller Angst wich er instinktiv zurück, seine Stimme wankte, sank zusammen und zerbrach. Er hastete zurück, auf der Suche nach der Erde, aber Vergnan zog ihn weiter, drängend und kraftvoll. Jenseits des oberflächlichen Lichtes der Sonne erfuhr er die Gesamtheit dessen, was in ihrem Innern verborgen lag. Den Kern. Die undurchdringliche Dunkelheit. Noch einmal packte ihn Angst. Er flehte darum, fliehen zu dürfen. In der Hitze des Feuers strömten Tränen über sein Gesicht, und er bettelte. Aber Vergnan zog ihn wohlwollend mit sich. Komm weiter. Komm. Sieh. Wisse. Kräfte strebten spiralförmig zu einem Punkt hin.
Und er sah.
Konnte er es als ‚böse’ bezeichnen? Denken war eine Absurdität. Nicht denkend, sondern fühlend und empfindend erfuhr er die Ganzheit dieses Wesens … eines Sterns … der Sonne … und er sah, daß es nicht böse war. Er spürte die grenzenlose Totalität des Nichts, das sich auftat. Ein Empfinden existierte nicht mehr. Kälter als Kälte, schrecklicher als Haß, elender als Angst, schwärzer als das Böse. Das unendliche, das ganze innere Nichts von allem, was es gab, von allem.
Ich habe genug gesehen. Nein.
Ja, rief
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