Der Bernsteinring: Roman
verwehren, es in Augenschein zu nehmen.
»Dein Stundenbuch?«
»Ja, Ehrwürdige Mutter.«
»Zeig mir die anderen Seiten.«
Gehorsam holte Anna die Lagen hervor und legte sie der Reihe nach auf das Pult. Die Äbtissin blätterte sie schweigend durch.
»Du hast ein großes Talent, Anna, die Bilder sind sehr sprechend. Aber ich verstehe nicht, was sie erzählen sollen. Gut, jedes erste Blatt zeigt die Tageszeit der Stunde, aber die Szenen der drei folgenden machen für mich keinen Sinn. Erkläre es mir.«
»Ich habe mich ein wenig mit der Astrologie befasst, Ehrwürdige Mutter. Es ist eine weise Kunst, wie mir scheint, und gottgefällig!«
»Gottgefällig?«
»Ja, Ehrwürdige Mutter. Seht, ich konnte zu jeder Stunde eine Stelle aus der Bibel finden, die auf Gottes wunderbare Schöpfung hinweist. Heißt es nicht im Psalm 147: ›Er stellt die Zahl der Sterne fest, ruft jeden von ihnen mit Namen.‹?«
»So heißt es. Und weiter, Anna?«
»Darum stellt jeweils das vierte Blatt die Planeten dar, die, wie ich meine, der Stunde entsprechen. Ich habe mir erlaubt, sie als typische Gestalten abzubilden, wie es auch in den alten Büchern getan wird. Seht, zur Laudes ist es die Sonne, die jubelnd den Tag begrüßt, die Prim, den Beginn des Tagwerks, dachte ich, mag der schnellfüßige Merkur bestimmen, die Terz der kraftvolle Mars. Die Mitte des Tages, die Sext sehe ich dem großherzigen Jupiter zugeordnet, die Non der mildenVenus. Für die Vesper habe ich den Mond bestimmt, der Complet schließlich, das Ende des Tages, dem strengen Saturn.«
Nachdenklich wiegte die Äbtissin den Kopf.
»Nun, ich muss sagen... Also, ich hätte es vermutlich anders gemacht. Ist nicht die Sext die hohe Stunde der Sonne und die Venus der Abendstern?«
»Auch Ihr habt Kenntnis über die Sterne?«
Die Äbtissin lächelte.
»Vermutlich nicht so tiefe wie du. Schon Dionysia hat mir damals berichtet, du hättest gelehrte Schriften darüber gelesen.«
»Nun ja, Euer Einwand ist richtig. Die heitere Sonne könnte der Sext entsprechen, doch die sechste Stunde ist auch die der Kreuzigung und des Opfers...«
»Ich will nicht mit dir disputieren, meine Tochter, es ist dein Werk. Du hast dir etwas dabei gedacht, und wenn ich mir die Bilder genauer ansehe, dann hast du den astrologischen Kräften die Gesichter von Menschen gegeben, die dir etwas bedeuten.« Sie lachte leise auf. »Nun, Rosa als Venus ist sicher nicht ganz verkehrt.«
Sie blätterte weiter und fragte dann: »Ich fange an zu verstehen. Es sind keine biblischen Szenen, Anna. Es sind Bilder aus deinem Leben.«
»Ja, Ehrwürdige Mutter. Das Buch ist mein Leben.«
»Und du gestaltest es für den Ratherren Hrabanus Valens, deinen Wohltäter. Kind, ich kenne dich nun schon seit vielen Jahren, und dennoch – ich habe dich nie ganz durchschaut. Anfangs warst du gehorsam und still, viel stiller als alle, die sich unter meine Obhut begaben. Doch verschüchtert wirktest du nie. Du wurdest tüchtig als Schreiberin, und Dionysia war voll des Lobes. Rosa hat dich zu dem einen oder anderen Akt des Ungehorsams verführt, das habe ich wohl bemerkt. Aber dann, als sieuns verließ, schien sich ein dunkler Schleier über dich zu senken. Vermisst du sie so sehr?«
»Manchmal. Aber ich besuche sie hin und wieder.« »Ja, der Ratsherr hat mich gebeten, dir immer dann
Urlaub zu geben, wenn du sie sehen möchtest. Aber du
gehst selten zu ihr. Was ist geschehen, Anna?« »Nichts, Ehrwürdige Mutter.«
»Man sagte mir, du habest einen Apfel in der Kirche niedergelegt.«
»Ja, das tat ich.«
»Was möchtest du, dass geschieht?«
Anna schüttelte den Kopf und starrte in die Flammen.
»Anna, du bist keine adlige Waise aus Neapel, und
dein Name lautet nicht di Nezza, stimmt es?« »Nein, mein Name ist Anna Dennes.«
»Ich habe es mir schon recht bald gedacht. Was hat den Ratherren dazu gebracht, dieses Schauspiel mitzumachen? War er dein Geliebter? Hat dich deshalb seine Heirat mit Rosa so tief betroffen gemacht?«
»Nein, Ehrwürdige Mutter. So ist das nicht.«
»Kind, ich bin eine alte Frau geworden, und ich habe Dutzende von Mädchen und jungen Frauen kommen und gehen sehen. Manche sind auch geblieben und haben hier ihren Frieden gefunden. Doch die Ruhe, die dich umgibt, ähnelt zunehmend einem Waffenstillstand, keinem inneren Frieden. Und nun begehrst du auf. Was bedeutet dir Hrabanus Valens?« Sie deutete mit dem Finger auf die letzte Seite der Sext, auf der es hieß: ›Zu dir redet mein
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