Der Beschütze
landete immer wieder bei Der Exorzist.
Wenn sie über ihr Leben und ihren Tod nachdachte, staunte Lucy oft über ihre Horrorleidenschaft. Schließlich war sie zu dem Schluss gekommen, dass dies aus einem tief verwurzelten Gefühl der Geborgenheit herrührte. Bevor die MS festgestellt worden war, hatte Lucy ein behütetes Leben geführt. Sie war wie viele hochintelligente Schüler und Studenten durch die Schule und die Universität mäandert, hatte das Lernen nach besten Kräften vernachlässigt und es trotzdem geschafft, sich ihr Diplom und Freunde fürs Leben zuzulegen. Sie hatte mit Cannabis herumprobiert und hatte doch niemals einen schlechteren Trip erwischt als den, bei dem sie geglaubt hatte, ihre beste Freundin Sharma hätte ihre neue Max-Factor-Wimperntusche geklaut. Sie war bei drei Protestmärschen dabei gewesen – Tierschutz, Tibet und noch mal Tibet –, ohne dass die Polizei je ihre Personalien aufgenommen hätte. Sie hatte sich nur im Beisein von Freunden betrunken, die dafür sorgten, dass sie sicher nach Hause kam, sie hatte niemals einen nahen Verwandten verloren, und ihr war nie das Herz gebrochen worden. Wahrscheinlich, schloss sie, mochte sie Horrorgeschichten, weil ihr im richtigen Leben niemals etwas auch nur ansatzweise Ähnliches widerfahren war und auch niemals widerfahren würde.
Das hatte sie zumindest zu Jonas gesagt.
Doch es war nicht mehr so unumstößlich wahr wie vor der Diagnose. Seit die MS begonnen hatte, Besitz von ihrem Leben zu ergreifen, erkannte sie widerstrebend ein Bedürfnis an, sich durch Horror selbst auf die Probe zu stellen. Sie musste an die Grenzen ihrer Stärke und Gewitztheit gehen, um sich zu vergewissern, dass sie noch nicht vollkommen hilflos war – auch wenn diese Kraft- und Mutprobe nur in ihrem eigenen Denken stattfand.
Sie sah sich die Filme zum Spaß an; sie studierte sie wie Handbücher.
Lucy konnte nicht mehr einfach nur zusehen, wie ein hübsches junges Mädchen durch einen unheimlichen Wald oder ein dunkles Haus tappte, ohne dass sich irgendein Teil von ihr wünschte, sie wäre dort – und würde alles viel besser machen.
Lucy Holly würde sich niemals umdrehen und mit so einem Zitterstimmchen »Wer ist da?« rufen. Sie würde zwischen die Bäume huschen, lautlos einen Bogen durchs Unterholz schlagen und hinter den torkelnden Zombies herauskommen. Mal sehen, wie denen das gefiel!
Sie würde sich niemals im Dunkeln die Treppe hinunterpirschen, ein Messer in der jämmerlich schlotternden Hand, um dem Eindringling entgegenzutreten; sie würde oben an der Treppe warten und dem Drecksack das Bücherregal, das dort stand, auf den Schädel kippen, während dieser ahnungslos die Stufen heraufgeschlichen kam.
Wenn sie einem Zombie auflauern, wenn sie einen Einbrecher plattmachen konnte … wie schwer konnte es dann sein, den Killer in ihrem eigenen Körper abzuwehren?
Manchmal, wenn sie sich mental stark genug fühlte, stand Lucy nackt vor dem Spiegel und beobachtete sich. So kam es ihr vor – dass sie sich beobachtete , nicht betrachtete.
Sie war schön gewesen. Das wusste sie – allerdings lag das jetzt hinter ihr.
Das Jahr der Steroide war vorbei, und sie war das Übergewicht wieder losgeworden, und noch einiges mehr. Dick und aufgedunsen zu sein war ihr fast noch verhasster gewesen als die Krankheit an sich. Sie hatte nicht gewollt, dass Jonas sie anfasste, nicht einmal, wenn sie ihn berühren wollte. Jetzt jedoch konnte selbst sie sehen, dass sich das Ganze zu weit in die Gegenrichtung entwickelt hatte. Sie war so dünn und wackelig, dass sie fast glaubte, die Bestie ausmachen zu können, die sie von innen heraus verzehrte, wenn sie nur scharf genug hinsah. Manchmal glaubte sie sogar, einen ganz kurzen Blick auf sie zu erhaschen – ein Zucken der Haut, die sich über ihre Hüfte spannte, eine seltsame Beule unter den Rippen, die im Licht verschwand. Ihr wurde übel bei dem Gedanken, dass sie eines Tages in diesen Spiegel schauen und sehen würde, wie eine scharfe Klaue ihren Bauch aufschlitzte, eine schuppige Hand hervorkam und die reptilienhafte Krankheit mit kalten Augen ihre Haut auseinanderschob wie einen Vorhang zum letzten Akt im Schauspiel ihres Lebens.
Lucy schauderte, obwohl ihre Heizkostenrechnung geradezu aberwitzig hoch war und sie die Decke bis unters Kinn hochgezogen hatte.
Sie dachte an den echten Horror, der sich keinen Kilometer von dort abgespielt hatte, wo sie jetzt auf dem Sofa lag. War Margaret
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